Auf Tuch­füh­lung

Wie fühlt sich die Orthopädie-Technik an? OT-Redakteurin Pia Engelbrecht ist dieser spannenden Frage nachgegangen – gemeinsam mit der Orthopädietechnik-Meisterin Alexandra Reim.

Unse­re Han­din­nen­flä­chen sind extrem emp­find­lich und ent­hal­ten eine hohe Dich­te an Ner­ven­enden – online fin­det man Schät­zun­gen von um die 17.000. Die Hän­de von Orthopädietechniker:innen sind im All­tag beson­ders gefragt. Sie wer­keln mit ver­schiedenen Mate­ria­li­en und Werk­zeu­gen, kom­men bei der Ver­sor­gung in direk­ten Kör­per­kon­takt mit ihren Patient:innen und ihnen auch auf emo­tio­na­ler Ebe­ne sehr nah. Nicht von unge­fähr rührt die Rede­wen­dung, dass es für gewis­se The­men „Finger­spitzen­gefühl“ braucht – denn hier ist die Haut beson­ders sen­si­bel. Gemein­sam mit Alex­an­dra Reim, Ortho­pä­die­­tech­nik-Meis­te­rin bei Mannl und Hauck, ging die OT in der Werk­statt auf Tuch­füh­lung und der Fra­ge nach: Wie fühlt sich die Ortho­pä­die-Tech­nik an?

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„T äglich han­tiert sie mit warm und kalt, weich und hart, nass und tro­cken und weiß dabei gar nicht, wel­ches Gefühl ihr das liebs­te ist. „Ich bin total ger­ne Bast­le­rin. Des­we­gen bin ich Hand­wer­ke­rin gewor­den“, sagt Alex­an­dra Reim. Sie schätzt es, mit ganz unter­schied­li­chen Mate­ria­li­en und Werk­zeu­gen zu arbei­ten und dabei die Tex­tur, Form und Tem­pe­ra­tur wahr­zu­neh­men. Sie model­liert, föhnt, feilt, poliert so lan­ge, bis aus einer anfäng­lich kan­ti­gen, leb­lo­sen Plat­te ein ana­to­misch geform­tes Hilfs­mit­tel entsteht.

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Aufs Gefühl setzt Reim nicht erst an der Werk­bank. Bereits bei der Anam­nese ver­traut sie auf die Rück­mel­dung ihrer Hän­de. „Man fühlt, inwie­fern man bei­spiels­wei­se einen Knick­fuß kor­ri­gie­ren kann.“ Wie viel ist mög­lich? Wo ist die Gren­ze der Fehl­stel­lung? Was lässt sich aus dem Fuß her­aus­ho­len? Auf die­se Fra­gen lie­fern ihre Hän­de die Ant­wort. Die Ana­mne­se ist auch ein Zeit­punkt, der viel Fein- und Fin­ger­spit­zen­ge­fühl erfor­dert. Reim ist es wich­tig, ihren Patient:innen immer offen zu begeg­nen, ihre Sor­gen ernst zu neh­men und jedem Gedan­ken Raum zu geben, damit sie sich wohl- und ver­stan­den füh­len. Bevor sie jeman­den berührt, fragt sie nach, ob das in Ord­nung ist. Berüh­rungs­ängs­te hat­te sie nie, unge­wohnt war es zum Anfang ihrer Aus­bil­dung aber schon, einen Stumpf anzu­fas­sen oder einen Abdruck für eine Ober­schen­kel­pro­the­se zu neh­men. „Wie intim das tat­säch­lich ist, merkt man erst, wenn man es macht.“ Umso wich­ti­ger ist ein Ver­trau­ens­ver­hält­nis zwi­schen Techniker:in und Patient:in. Eben­falls rele­vant ist das räum­li­che Umfeld. In einer beeng­ten, kal­ten und kah­len Kabi­ne lässt es sich hand­werk­lich viel­leicht pas­sa­bel arbei­ten, doch der Wohl­fühl­fak­tor fehlt. Genü­gend Platz, Far­be und eine ange­neh­me Tem­pe­ra­tur erzeu­gen inner­lich und äußer­lich Wärme.

Die Anpro­be ist stets ein span­nen­der Moment und für bei­de Sei­ten mit Erwar­tun­gen ver­bun­den. Und die­se wer­den auch mal ent­täuscht. Reim fühlt die „Frust­wol­ke“, die über allen Betei­lig­ten schwebt, weiß aber, wie sie sie vor­über­zie­hen las­sen kann. Offen reden, viel­leicht die Mei­nung von Kolleg:innen ein­ho­len oder den Ter­min am nächs­ten Tag mit einem Neu­start fort­set­zen. Unter nun wie­der blau­em Him­mel geht das Kon­zept dann hof­fent­lich auf – Erleich­te­rung und Freu­de sind groß.

Ein Schaum, der sei­nen Namen verdient

Wäh­rend ihrer Aus­bil­dung hat­te ein Mate­ri­al eine beson­de­re Bedeu­tung für Reim. In ihrer Schub­la­de lag stets ein Stück Relax­schaum. Eigent­lich als Bezug für Sitz­scha­len gedacht, nutz­te sie ihn nach auf­re­gen­den Momen­ten zur Ent­span­nung. „Der Schaum reagiert auf Druck und Wär­me und hat eine wei­che Rück­stell­kraft. Das ist sehr ange­nehm und beru­hi­gend“, fin­det sie. „Sei­nen Namen hat er wirk­lich ver­dient.“ Eine Her­aus­for­de­rung war anfangs das Bear­bei­ten von Poly­pro­py­len. „Wenn man PP föh­nen kann, dann hat man es geschafft“, sagt Reim und erin­nert sich dabei an ihren dama­li­gen Meis­ter, der die­sen müh­sa­men Lern­pro­zess gern mit Stäb­chen essen ver­glich. Auf die Ortho­pä­die-Tech­nik bezo­gen heißt das: Zu kal­te Luft, zu war­me Luft, zu viel Druck, zu wenig Druck – er lehr­te sie, dass es auf das rich­ti­ge Maß ankommt.

Ein Satz ihres Meis­ters, der eben­falls hän­gen­blieb, ist fol­gen­der: „Ortho­pä­die-Tech­nik heißt begrei­fen“. Das wird ihr immer dann bewusst, wenn Kolleg:innen vom Außen­dienst mit einem neu­en Mate­ri­al das Sani­täts­haus betre­ten. Alle scha­ren sich um sie her­um und „begrif­feln“ das Mit­bring­sel. Im ers­ten Moment begut­ach­tet jede:r es mit den Augen, aber wirk­lich begrei­fen und beur­tei­len wird er oder sie es erst mit den Händen.

Handwerkerin aus Leidenschaft: Alexandra Reim. Foto: Reim
Hand­wer­ke­rin aus Lei­den­schaft: Alex­an­dra Reim. Foto: Reim

Car­bon: Fluch und Segen zugleich

Beim The­ma Car­bon kommt die Ortho­pä­die­tech­nik-Meis­te­rin ins Grü­beln – ein zwei­schnei­di­ges Schwert. Auch wenn die Fasern bei der Ver­ar­bei­tung auf der Haut krat­zen und Reim sich des­we­gen einen Anzug über­wer­fen muss, über­zeugt es sie durch sei­ne „unschlag­ba­ren“ Eigen­schaf­ten: leicht, sta­bil, dünn zu ver­ar­bei­ten. Aus­schließ­lich Freu­de kommt an ande­rer Stel­le auf: „Ich mag es, mit den Hän­den etwas zu for­men, beim Tief­zie­hen mit war­men Mate­ria­li­en zu arbei­ten“, sagt sie. „Und ich mag es, mit Gips zu pan­schen – da ver­an­stal­te ich ger­ne eine Saue­rei.“ Eben­so wie kein Kör­per­teil schar­fe Ecken und Kan­ten hat, muss auch der Gips eine glat­te Form haben. Ein Alt­ge­sel­le von Reim kon­trol­lier­te den Rand eines Kor­setts gern mit geschlos­sen Augen. Denn was er fühl­te, wür­den spä­ter auch die Patient:innen fühlen.

Nicht immer sind die Wahr­neh­mun­gen von Patient:in und Techniker:in iden­tisch. Eine nicht-ampu­tier­te Per­son wird wohl nie ganz nach­emp­fin­den kön­nen, wie es ist, eine Pro­the­se zu tra­gen. „Das Gefühl des Pati­en­ten hat immer recht, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich den per­fek­ten Schaft aus dem Lehr­buch gefer­tigt habe.“ Aus­ein­an­der gehen die Mei­nun­gen eben­falls bei der Wahl des Mate­ri­als. Die Beden­ken, dass man durch Sili­kon ver­mehrt schwitzt, ent­kräf­tet Reim. Denn ja, anfangs wür­den die Patient:innen tat­säch­lich mehr schwit­zen, spä­ter durch den Gewöh­nungs­ef­fekt aber oft­mals sogar weni­ger. Zudem las­se sich das Mate­ri­al gut sau­ber machen. „Für mich ist Sili­kon ein Game­ch­an­ger“, so Reim, ins­be­son­de­re in der Ober­schen­kel- und Armor­the­tik sowie bei Ban­da­gen. Wäh­rend sie Fan von den ver­schie­dens­ten Mate­ria­li­en ist, haben ihre Patient:innen einen kla­ren Favo­ri­ten: Schaum­stoff. „Die Leu­te lie­ben alles, was weich ist.“ Aller­dings sei nicht alles, was weich ist, immer gut. Meist brau­che es Sta­bi­li­tät. „Und: Wenn ein Hilfs­mit­tel gut passt, dann muss es nicht unbe­dingt gepols­tert sein“, betont die Meis­te­rin. Letzt­end­lich habe aber auch hier wie­der das Gefühl der Patient:innen Vor­rang. Wenn Eltern sich eine Hart­scha­le für ihre Kin­der ohne – die eigent­lich unnö­ti­ge – Pols­te­rung nicht vor­stel­len kön­nen, dann kommt eben noch zusätz­li­cher Schaum hin­ein. Am Ende zählt, dass das Hilfs­mit­tel tat­säch­lich getra­gen wird – die Com­pli­ance lebt vom rei­nen Gefühl.

Beim Schleifen ist Fingerspitzengefühl gefragt. Foto: Reim
Beim Schlei­fen ist Fin­ger­spit­zen­ge­fühl gefragt. Foto: Reim

Kei­ne Ecken und Kanten

Wer Mate­ri­al bear­bei­tet, der braucht dafür auch das pas­sen­de Werk­zeug. Ergo­no­misch geformt sei­en die meis­ten. Ein Uten­sil liegt Reim aber beson­ders gut in der Hand, und zwar, weil sie ihm den pas­sen­den Fein­schliff ver­passt hat: ein Spa­tel zum Model­lie­ren. Den hat sie vorn abge­run­det und kommt damit bei­spiels­wei­se beim Auf- und Abtra­gen von Gips viel bes­ser zurecht. „In der Ortho­pä­die-Tech­nik gibt es kei­ne Ecken und Kan­ten. Sie ist immer rund, immer anatomisch.“

Pia Engel­brecht

Wenn Sie wei­te­re span­nen­de Geschich­ten aus der Welt der Ortho­pä­die-Tech­nik lesen möch­ten, emp­feh­len wir Ihnen die Lek­tü­re unser Son­der­aus­ga­be anläss­lich des 75-jäh­ri­gen Bestehens des Ver­lags Ortho­pä­die-Tech­nik!

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