Als Vice President Futuring Mediterranee & Business Transition arbeitet Georgia Näder im Familienunternehmen und repräsentiert die vierte Generation der Inhaberfamilie. Schon seit Kindertagen ist sie Teil der Ottobock-Welt und hat damit Einblicke in das Unternehmen aus Duderstadt, wie kaum jemand sonst. Derzeit liegt ihr beruflicher Schwerpunkt jedoch unter anderem in Frankreich, daher weiß sie genau, wie sich das Gastgeberland auf die Paralympics vorbereitet hat. Zu Beginn der Veranstaltung sprach die OT-Redaktion mit Georgia Näder über Sport, Teilhabe und die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland.
OT: Frau Näder, Paris und die Paralympics – wie passt das bisher für Sie zusammen?
Georgia Näder: Es ist schön, die Welt zu Gast in Paris zu haben. Auch für mich persönlich, da ich beruflich viel in Frankreich bin und mich deshalb auch der Gastgebernation sehr verbunden fühle. Ich finde, die Eröffnungszeremonie war beispielsweise wunderbar in die Stadt und ihre weltbekannten Orte eingebettet. Dabei wurde der Stolz der Franzosen auf ihr Land sichtbar, den sie auch ganz ungezwungen zum Ausdruck bringen.
OT: Paris ist eine klassische europäische Großstadt mit einem hervorragend ausgebauten Metro-System – für fitte Fußgänger:innen. Was haben Sie dennoch wahrgenommen – waren die Olympischen und Paralympischen Spiele ein Treiber der Inklusion?
Näder: Im Vorfeld der Spiele gab es Bedenken, ob alles funktionieren würde. Paris ist nicht gerade als eine der barrierefreiesten Städte der Welt bekannt, aber es wurde enorm viel investiert, um besser zu werden. Beispielsweise wurden einige Metrostationen durch Neubau zugänglicher. Allerdings finde ich es sehr gut, dass nicht alles umgebaut und viele neue Stadien errichtet wurden, sondern die vorhandenen lokalen Gegebenheiten genutzt und angepasst wurden.
OT: In Tokio haben die Corona-Bestimmungen für Abstand zwischen den Menschen gesorgt. Wie wichtig ist es, dass nun wieder Begegnungen möglich sind?
Näder: Die Begegnung ist sehr wichtig, weshalb sich natürlich die Spiele nicht miteinander vergleichen lassen. Alle freuen sich extrem, dass man sich wiedersehen und auch einmal in den Arm nehmen kann. Die Corona-Jahre und damit auch die Spiele waren hart für die Athleten. Es macht schließlich einen enormen Unterschied, ob man in einem fast leeren Stadion seinen Wettkampf hat oder ob da Fans sitzen, die einen anfeuern und somit alle Kräfte in den Sportlern mobilisieren. Im vergangenen Jahr waren schon die Para-Leichtathletik-Meisterschaften hier in Paris zu Gast und bereits da habe ich das Feedback von Léon (Schäfer, Anm. d. Red.) und Johannes (Floors, Anm. d. Red.) bekommen, wie sehr sie sich über die Zuschauer freuen.
OT: Ottobock stellt auch in Paris den technischen Support für die Athlet:innen – welchen Stellenwert hat dieses Engagement für das Unternehmen?
Näder: Es ist ein Teil unserer DNA. Wir identifizieren und engagieren uns mit bzw. bei den Spielen seit 1988. Dadurch können wir den Athletinnen und Athleten das sichere Gefühl vermitteln, dass wir uns darum kümmern, wenn etwas kaputt geht. Außerdem macht es sehr viel Spaß, hier zu sein und mit dem Team zu arbeiten. Die Stimmung ist fantastisch und das motiviert mich zusätzlich, meinen Beitrag zu leisten.
OT: Sie selbst haben im Rahmen der Running Clinics zusammen mit Heinrich Popow Menschen mit Beeinträchtigungen die Möglichkeit gegeben, Sportprothesen auszuprobieren. Es war eines Ihrer ersten Projekte im Unternehmen. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gesammelt?
Näder: Ich habe Heinrich Popow oft begleitet, und es war einfach unglaublich zu sehen, wie sehr es die Kinder und Erwachsenen berührt, wieder Sport zu machen. Ich kann mich an Menschen erinnern, die haben über 20 Jahre keinen Sport betrieben, bei denen war es natürlich ein sehr emotionaler Moment. Wir hatten zum Beispiel einen Vater, der während der Running Clinics in Tränen ausgebrochen ist. Da habe ich mir schon Sorgen gemacht, ob er Schmerzen hat oder irgendetwas nicht in Ordnung ist. Doch er war einfach nur glücklich, dass er mit seiner Tochter fangen spielen kann – eine Erfahrung, die beide zuvor nicht teilen konnten. Es sind die vermeintlich kleinen Dinge, die einen großen Unterschied machen – für die Menschen, aber auch für mich.
OT: Gibt es aus technischer Sicht genug Lösungen, um Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen den Sport zu ermöglichen?
Näder: Ja, aus technischer Sicht gibt es genug Lösungen, um Sport möglich zu machen. Wir entwickeln unsere Angebote ständig weiter, haben hier in Paris beispielsweise die neuesten Blades dabei und stellen diese auch den Sportlerinnen und Sportlern vor Ort vor.
OT: Top-Athlet:innen, wie hier in Paris, können sich ihre Top-Versorgungen häufig nur dank des Engagements der Industrie erlauben. Sollte es nicht im Sinne einer Sportnation wie Deutschland möglich sein, mehr staatliches Engagement zu zeigen? Schließlich haben die Athlet:innen hier auf dieser größten Bühne des Sports eine Vorbildfunktion für eine große Bevölkerungsgruppe in Deutschland.
Näder: Die positive Wirkung von Sport ist nicht nur eine Momentaufnahme, sondern vor allem als Prävention extrem wichtig. Leider wird von den Krankenkassen in Deutschland nur Kindern mit einer Behinderung – und dann auch nur für den Schulsport – eine Versorgung gewährt. Ab dem 18. Lebensjahr müssen die Kosten für eine Sportprothese selbst getragen werden. Für Kinder geht es aber gar nicht nur um den organisierten Sport, sondern auch darum, toben und spielen zu können. Grundsätzlich ist Bewegung wichtig, in welcher Form auch immer. Ich kenne es von mir selbst, dass ich nach zwei Wochen ohne Sport unzufrieden werde. Dann kann ich etwas tun: die Laufschuhe anziehen oder ins Fitnessstudio gehen. Menschen mit Beeinträchtigungen haben nicht die Möglichkeit, einfach andere Schuhe anzuziehen und wieder Sport zu machen. Ich hoffe aber, dass wir es alle gemeinsam schaffen, den Menschen den Weg in den Sport zu eröffnen.
OT: Sie sind nicht nur wegen der Spiele in Frankreich, sondern kümmern sich auch beruflich um diesen Teil Europas. Können Sie uns ein wenig mitnehmen und erläutern, wie sich die Hilfsmittelversorgung in Frankreich im Vergleich zu Deutschland unterscheidet?
Näder: Hier in Frankreich gibt es einen großen Player in der Erstattung – und das ist quasi der Staat. Das hat einerseits den Vorteil, dass man nur mit einer Partei sprechen muss, andererseits wird es schwierig, wenn diese seit sieben Jahren die Preise nicht erhöht hat und es nicht einmal einen Inflationsausgleich gibt. Grundsätzlich werden in Frankreich die Produkte in Innovationsklassen eingeteilt. Mit dem C‑Brace sind wir zum Beispiel erstmals in der Innovationsklasse 2 in diesem Jahr, unsere anderen Produkte befinden sich in den Klassen 3 und 4. Basierend auf der Innovationsklasse wird der Preis festgelegt. Da die Preise seit sieben Jahren nicht angehoben worden sind, befinden sich viele kleinere Betriebe in einer schwierigen Situation. Ehrlicherweise haben wir gedacht, dass im Jahr der Paralympischen Spiele etwas mehr Bewegung in die Sache kommt, doch im Gegenteil – die Preiserhöhung ist für dieses Jahr erneut abgesagt worden.
OT: Und wie sieht es in Sachen Sportversorgung aus?
Näder: Ich glaube, dass hier in Frankreich noch weniger Menschen mit Beeinträchtigung Sport treiben. In diesem Jahr wurde auf der Homepage der zuständigen Organisation zwar die Kostenübernahme für die Versorgung mit Sportprothesen auch für Erwachsene angekündigt. Wir haben daraufhin alle Patienten, die wir hier in unseren Patient-Care-Centern versorgen, ermutigt, einen Antrag auf Erstattung einzureichen – doch fast alle Anträge wurden abgelehnt. Nur in Ausnahmefällen, und das betraf fast ausschließlich Kinder, wurde eine Erstattung genehmigt.
OT: Als Teil der Näder-Familie werden Sie häufig als „Ottobock-Erbin“ bezeichnet. Jetzt ist Ottobock nach dem Ausstieg von EQT wieder komplett in Familienhand – wie fühlt sich das für Sie an?
Näder: Es fühlt sich gut an. Das Feedback aus dem Unternehmen war super. Ich habe unzählige Nachrichten erhalten und alle haben sich sehr gefreut. Allerdings darf man nicht vergessen: Wir haben auch zuvor 80 Prozent gehalten, es ist also kein ganz so neues Gefühl.
OT: Ihr Vater hat ungefähr in Ihrem Alter das Unternehmen übernommen. Welche Ideen haben Sie für die Zukunft von Ottobock?
Näder: Ich glaube, wir haben viele Themen, an denen wir arbeiten können. Es mangelt zum Glück auch nicht an Ideen. Die Digitalisierung der Branche ist eines dieser Themen, das wir seit einigen Jahren vorantreiben – wir haben hier in Paris zum Beispiel zum ersten Mal einen 3D-Drucker dabei. Für Ottobock ist es mir ein persönliches Anliegen, dauerhaft ein Talentprogramm zu etablieren. Jungen Leuten im Unternehmen die richtigen Tools an die Hand zu geben, zum Beispiel in Sachen Führung, das ist äußerst wichtig und stärkt uns nachhaltig. Darüber hinaus müssen wir weiterhin den User mehr in den Mittelpunkt stellen, denn dessen Zufriedenheit ist das A und O für unseren Erfolg.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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