Para­lym­pics: „Ers­te Hil­fe“ für Hilfsmittel

Ottobock ist bei den Paralympischen Spielen jeweils mit einem internationalen Technikerteam vor Ort. Ist ein Hilfsmittel reparaturbedürftig, organisiert Julian Napp, Leiter des Technischen Supports, dass den Athlet:innen schnell geholfen wird. So auch in Paris.

Es ist eine Sport­an­la­ge in Duder­stadt im Jahr 1999. Otto­bock-Chef Hans Georg Näder hat das Who’s who des deut­schen Para-Sports nach Nie­der­sach­sen zum Para­lym­pics Revi­val ein­ge­la­den und Juli­an Napp, damals zwölf Jah­re alt, ent­deckt nicht nur sei­ne Fas­zi­na­ti­on für den Para-Sport, son­dern lernt auch den Beruf des Ortho­pä­die­tech­ni­kers ken­nen und lieben.

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Ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter lei­tet Napp selbst den Tech­ni­schen Sup­port bei den Para­lym­pics in Paris. Mit Lei­den­schaft, Ein­falls­reich­tum und viel Vor­be­rei­tung stemmt das Team vor Ort jeden Tag eine Viel­zahl von Repa­ra­tu­ren. Repa­ra­tu­ren, kei­ne neu­en Ver­sor­gun­gen, das ist Napp wich­tig: „Der Fokus der para­lym­pi­schen Werk­stät­ten liegt auf der Repa­ra­tur von Hilfs­mit­teln, auf die die Ath­le­ten ange­wie­sen sind. Ohne Repa­ra­tur kön­nen die Sport­ler, die zu uns in die Werk­statt kom­men, ihre Wett­kämp­fe nicht antre­ten. Dabei kom­men die Ath­le­ten mit sehr unter­schied­li­chen spe­zi­fi­schen Pro­ble­men zu uns.“ In Paris bie­gen die Sportler:innen rechts in die Werk­statt ab. Am Emp­fang kön­nen sie erklä­ren, was an ihrem Hilfs­mit­tel defekt ist. Name, Hilfs­mit­tel und die eige­ne Dia­gno­se sowie eine E‑Mail-Adres­se wer­den im Sys­tem erfasst und auf einem Bar­code gespei­chert. Die­ser wird auf einen klei­nen Anhän­ger aus Plas­tik geklebt und an Roll­stuhl, Pro­the­se und Co. befes­tigt. Napp fällt dann die Rol­le des Dis­tri­bu­tors zu. Er muss das Hilfs­mit­tel und den dazu­ge­hö­ri­gen Auf­trag an sein Team wei­ter­ge­ben. Dafür ist es wich­tig, dass er von den rund 130 Techniker:innen vor Ort wis­sen muss, was sie kön­nen. Dazu gehö­ren nicht nur die tech­ni­schen Fähig­kei­ten, son­dern auch, wel­che Spra­chen man beherrscht. Napp bringt ein Bei­spiel: „Wenn jemand mit einer defek­ten Pro­the­se kommt und ara­bisch spricht, dann habe ich im bes­ten Fall einen Exper­ten in Sachen Pro­the­tik und jeman­den, der ara­bisch spricht, vor Ort. Ich tei­le den bei­den dann im Team die Ver­sor­gung zu. Das klappt aus­ge­spro­chen gut.“ Eine Über­ra­schung ist dies für Napp nicht, der bereits bei vier Som­mer- und drei Win­ter­spie­len vor Ort war. Denn das inter­na­tio­na­le Team wach­se immer sehr schnell zusam­men, erklärt der Ortho­pä­die­tech­nik-Meis­ter. Es gibt einen gro­ßen Grup­pen­chat, in dem alle mit­ein­an­der ver­netzt sind. Dar­aus lei­ten sich vie­le klei­ne­re Grup­pen- oder ein­zel­ne Chats ab, in denen sich die Techniker:innen unter­ein­an­der aus­tau­schen – sei es zu ein­zel­nen Schich­ten, Ver­sor­gun­gen oder etwas ganz anderem.

Nicht alle Techniker:innen sind jeden Tag vor Ort, und das, obwohl die Werk­stät­ten von 8 bis 23 Uhr geöff­net sind. Im Drei-Schicht­be­trieb wird gehäm­mert, gepumpt und geschweißt – und in die­sem Jahr erst­mals auch auf digi­ta­le Scan- und Druck­kom­pe­tenz gesetzt. Dank eines mobi­len Scan­ners und eines Fila­mentdru­ckers kön­nen bei­spiels­wei­se Test­schäf­te gedruckt wer­den. Defi­ni­tiv­ver­sor­gun­gen wer­den in einer fran­zö­si­schen Werk­statt von Otto­bock gedruckt und sind bin­nen 24 Stun­den einsatzbereit.

Die Haupt­ar­beit wird aber im Ath­le­ten­dorf geleis­tet – und das dank der ganz unter­schied­li­chen Erfah­run­gen und Kom­pe­ten­zen der ein­zel­nen Techniker:innen. „Die inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit ist extrem wich­tig. Unse­re Kol­le­gen aus den ver­schie­de­nen Län­dern brin­gen jeweils ande­re Ansät­ze und viel Krea­ti­vi­tät mit, weil sie oft mit weni­ger Res­sour­cen aus­kom­men müs­sen, als es etwa deut­sche Tech­ni­ker gewohnt sind“, sagt Napp und ergänzt: „In vie­len Län­dern gibt es bei­spiels­wei­se kei­ne for­ma­le Aus­bil­dung für Ortho­pä­die­tech­ni­ker; das Wis­sen wird über die Pra­xis wei­ter­ge­ge­ben. Wir ler­nen enorm viel von­ein­an­der durch die unter­schied­li­chen Lösungs­we­ge, die wir manch­mal für die­sel­be Ver­sor­gung haben.“

Umfas­sen­de Ausbildung

Um die Unter­schie­de zwi­schen den Techniker:innen ­aus Deutsch­land und denen aus dem Aus­land her­aus­zu­stel­len, erläu­tert Napp: „In Deutsch­land ist die Aus­bil­dung sehr umfas­send und spe­zia­li­siert. Deut­sche Ortho­pä­die­tech­ni­ker haben durch unse­re Handwerks­ausbildung eine gute Grund­aus­bil­dung in allen Berei­chen der Ortho­pä­die-Tech­nik und in Theo­rie und Pra­xis. In ande­ren Län­dern ist das oft nicht so. Dort lernt man mehr durch Erfah­rung, und die Aus­bil­dung erfolgt über vie­le Jah­re in der Pra­xis. In vie­len Län­dern beginnt die Spe­zia­li­sie­rung auch viel frü­her als bei uns. In den USA zum Bei­spiel gibt es eine kla­re Tren­nung zwi­schen kli­ni­schen und tech­ni­schen Tätig­kei­ten. Der eine sieht nie einen Pati­en­ten und der ande­re geht nie in die Werk­statt. In Deutsch­land arbei­ten Ortho­pä­die­tech­ni­ker am Pati­en­ten und in der Werkstatt.“

Digi­ta­les Auf­nah­me­sys­tem statt Zettelwirtschaft

Durch die unter­schied­li­chen beruf­li­chen Bio­gra­phien der Techniker:innen bün­delt sich viel Wis­sen in der Pari­ser Werk­statt. Das hilft bei den aku­ten Ver­sor­gun­gen vor Ort, aber auch für zukünf­ti­ge Auf­ga­ben. Des­halb wird ein Mei­nungs­bild von den Teams ein­ge­holt, bei man­chen auch inten­si­ver nach Feed­back gefragt, und schließ­lich macht sich Napp auch selbst jeden Tag Gedan­ken dar­über, was er und das Team zum Bei­spiel bei den Spie­len in Mai­land bes­ser machen kön­nen. Ein Bei­spiel für eine erfolg­rei­che Umset­zung die­ser Feed­back-Run­den ist das digi­ta­le Auf­nah­me­sys­tem. „Das ist aus der Not­wen­dig­keit ent­stan­den, ­Zet­tel­wirt­schaft zu ver­mei­den und einen bes­se­ren Über­blick über die Repa­ra­tu­ren zu behal­ten,“ erklärt Napp.

Doch es ist nicht nur die Aus­bil­dung, die sich inter­na­tio­nal unter­schei­det, auch die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung in Deutsch­land und anders­wo kann enor­me Unter­schie­de auf­wei­sen. „Also man sieht so ziem­lich alles, was man nicht erwar­ten wür­de als Hilfs­mit­tel, also von Auto­rei­fen unter einer Geh­hil­fe, damit es nicht so rutscht, aber auch Pro­the­sen­schäf­te ein­fach nur aus, ich wür­de jetzt mal sagen, rest­li­chen Müll­stü­cken gefer­tigt“, berich­tet Napp auf Nach­fra­ge. Einen Aha-Moment hat­te eine deut­sche Ath­le­tin, als sie sah, wie ande­re Prothesenträger:innen ver­sorgt sind. „Vor ein paar Tagen war eine deut­sche Sport­le­rin bei uns, die erst seit einem Jahr ampu­tiert und seit fünf Mona­ten akti­ve Para-Sport­le­rin ist. Sie erzähl­te, dass sie noch immer stark mit ihrer Situa­ti­on zu kämp­fen habe. Und jetzt kommt sie hier­her und sieht das ers­te Mal so vie­le Men­schen mit den glei­chen Her­aus­for­de­run­gen. Und sie lau­fe hier mit einer myo­elek­tri­schen High­tech-Pro­the­se rum und stellt fest ‚Hier bin ich qua­si der Star mit mei­ner Ver­sor­gung‘. Sie habe, so sag­te sie mir, erst­mals rea­li­siert, wie schlecht so man­cher Sport­ler hier für Sport und All­tag ver­sorgt sei“, so Napp.

„Ers­te Hil­fe“ für Hilfsmittel

Dass die Sportler:innen in Paris trotz eines Defekts oder einer nicht dem Regle­ment ent­spre­chen­den Ver­sor­gung star­ten kön­nen, dafür arbei­ten die Techniker:innen nicht nur in der gro­ßen Haupt­werk­statt, son­dern auch in den ein­zel­nen Wett­kampf­stät­ten. Mit klei­nen mobi­len Werk­bän­ken aus­ge­stat­tet wird von einem aus zwei Per­so­nen bestehen­den Team sozu­sa­gen „Ers­te Hil­fe“ für Hilfs­mit­tel geleis­tet. Auch dort wird das digi­ta­le Erfas­sungs­sys­tem ein­ge­setzt, um in Echt­zeit den Bestand von Mate­ri­al und Art der Repa­ra­tu­ren zu erfas­sen. Trotz sorg­fäl­ti­ger Pla­nung kann es vor­kom­men, das ein­zel­ne Kom­po­nen­ten in zu gerin­ger Stück­zahl vor Ort sind. Dann wird ent­we­der aus der Zen­tra­le in Duder­stadt oder aus dem fran­zö­si­schen Lager Nach­schub geor­dert. „Dass wir in die­sem Jahr in Euro­pa sind, macht es für uns natür­lich ein biss­chen ein­fa­cher“, stellt Napp fest. Die­sen Vor­teil wird es auch 2026 bei den Win­ter­spie­len in Mai­land geben. Die Vor­be­rei­tung dafür beginnt direkt im Anschluss an die Spie­le in Paris. „Sobald wir zurück in Duder­stadt sind, begin­nen wir, die Maschi­nen und Ersatz­tei­le zu über­prü­fen und zu pla­nen, wel­che Gerä­te in Mai­land wohin müs­sen. Es geht zum Bei­spiel dar­um, kon­ti­nu­ier­lich zu opti­mie­ren, zu prü­fen, ob Maschi­nen repa­riert oder ersetzt wer­den müs­sen, ob die Lager­be­stän­de ver­än­dert wer­den müs­sen und so wei­ter“, berich­tet Napp von den zukünf­ti­gen Auf­ga­ben. Denn nach den Som­mer­spie­len ist vor den Winterspielen.

Hei­ko Cordes

Zur Per­son
Juli­an Napp ist CPO Events and Exhi­bi­ti­ons beim Hilfs­mit­tel­her­stel­ler Otto­bock. Er absol­vier­te bereits sei­ne Aus­bil­dung zum Ortho­pä­die­tech­ni­ker beim Duder­städ­ter Unter­neh­men und schloss den Meis­ter­lehr­gang 2018 erfolg­reich ab. 2012 war Napp bei den Para­lym­pics in Lon­don Teil des Werk­statt­teams, bereits zwei Jah­re spä­ter über­nahm er als Tech­ni­scher Direk­tor Ver­ant­wor­tung. In Paris erleb­te er bereits sei­ne vier­ten para­lym­pi­schen Spiele. 

 

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