Sie folgten der Einladung des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT), der in Kooperation mit der Vereinigung Technische Orthopädie (VTO) und der Initiative ’93 Technische Orthopädie sowie mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV) den TTO ausrichtete. Im Fokus der ersten Session unter der Leitung von Prof. Dr. med. Frank Braatz, PFH Private Hochschule Göttingen und 1. Vorsitzender der VTO, und Dr. med. Jennifer Ernst, Klinik für Unfallchirurgie Medizinische Hochschule Hannover, stand das Thema Exoprothesen.
Mehr Lebensqualität nach Amputation
Um den Vorteil einer Amputation gegenüber dem Erhalt beim Tumor drehte sich der Vortrag von Univ.-Prof. Dr. Dr. Frank Traub vom Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie (ZOU) der Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Von den 62.016 Amputationen im Jahr 2019 entfielen nur zwei bis drei Prozent auf Patient:innen mit Tumoren, so Traub. Dank der Technikentwicklung konnten im Jahr 2022 nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 175 unterschiedliche Tumortypen identifiziert werden, davon alleine 54 Knochentumorarten. „Studien zeigen, dass Patienten mit Osteosarkomen an der distalen unteren Extremität nach Amputation insgesamt eine höhere Lebensqualität haben als Patienten mit Erhalt“, unterstrich der Leiter Tumororthopädie/Sarkomchirurgie des UCT Mainz und Leiter der Kinderorthopädie und Osteologie. Bei Kindern jedoch bevorzuge er den Einsatz von Wachstumsprothesen oder auch Umkehrplastiken nach Borgreve.
Funktionalität und Schmerzen im Fokus
„Viele der biomedizinischen und technologischen Fortschritte der vergangenen Jahre haben bisher ohne oder getrennt von einer Weiterentwicklung der Amputationschirurgie stattgefunden“, erklärte Dr. Jennifer Ernst in ihrem Vortrag zu Innovationen in der Amputationschirurgie. „Die technologischen Fortschritte in der Prothetik erfordern eine grundlegende Überarbeitung in der Art und Weise, wie Amputationen durchgeführt werden sollen.“
Die Chirurgin stellte in Baden-Baden fünf chirurgische Verfahren vor, die zusammen mit den biomechanischen Fortschritten und einem angemessenen Rehabilitationstraining den weiteren klinischen Einsatz sogenannter bionischer Gliedmaßen erleichtern: Osseointegration (OI), Targeted Muscle Reinnervation (TMR), Targeted Sensory Reinnervation (TSR), Regenerative Peripheral Nerve Interface (RPNI) und Agonist-Antagonist-Myoneural-Interface (AMI). „Alle fünf Verfahren sind bereits klinisch am Menschen getestet worden“, sagte Dr. Jennifer Ernst. „Sie alle nutzen direkt die Funktionalität moderner Prothesen und adressieren gleichzeitig amputationsassoziierte Schmerzen.“ Der Einsatz dieser Techniken in der Akutversorgung habe das Potenzial, fortschrittliche Strategien zum Ersatz von Gliedmaßen zu einer klinischen Lösung zu machen, die weit über das hinausgehe, was bisher mit traditionellen chirurgischen Ansätzen möglich gewesen sei, so die Referentin abschließend.
Vorteil: Knieexartikulation
Frithjof Doerks von der Medizinischen Hochschule Hannover berichtete in seinem Vortrag von einem Fall, der die Vorteile einer Knieexartikulation bei Erhalt der Femurkomponente einer Endoprothese deutlich macht. Der sportlich aktive junge Patient im Fallbeispiel wurde vor knapp 30 Jahren infolge eines Ewing-Sarkoms mit einer Tumorendoprothese versorgt. Nach zahlreichen Revisionen klagte der 38-jährige Patient 21 Jahre nach der Operation erneut über große Schmerzen. In der Folge wurde eine aseptische Lockerung der Prothese festgestellt. Eine weitere Revision kam für den Patienten nicht infrage, sodass er aufgrund des hohen Leidensdrucks den Wunsch einer Amputation äußerte. Ein interdisziplinäres Team evaluierte die funktionell effektivste Amputationshöhe und entschied sich gemeinsam mit dem Patienten für eine Knieexartikulation mit Erhalt der Femurkomponente und gegen eine transfemorale Amputation mit dem Risiko eines zu kurzen Stumpfes. Mit Erfolg, wie Doerks betonte. „Die ganganalytische Verlaufskontrolle ergab eine Symmetrie der kinematischen und kinetischen Daten zwischen betroffener Seite und kontralateraler Seite“, erklärte der Referent. „Fünf Jahre nach der Operation ist sein Zustand an den präoperativen Zustand angeglichen. Der Patient ist sehr zufrieden. Er kann seinen Aktivitäten wieder nachgehen, verfügt über eine ausreichende Weichteildeckung und die Femurkomponente ist weiter stabil.“
Auf großes Interesse stieß auch der Vortrag von Christian Schlierf. Der geschäftsführende Vorstand von Human Study e. V. wurde aus Mexiko zugeschaltet. Im Mittelpunkt seines Beitrags „Prothesenversorgung in der Ukraine“ standen die Ausbildungsprojekte des 2007 gegründeten Vereins speziell in der Ukraine. Auf Initiative der NATO Support and Procurement Agency (NSPA) startete bereits im Jahr 2018 die erste Gruppe mit zehn Teilnehmenden und 2022 eine zweite Gruppe mit 14 Teilnehmenden eine Ausbildung zum Orthopädietechniker:in. Die Ausbildung umfasst 2.900 Stunden und ist von der International Society for Prosthetics and Orthotics (ISPO) zertifiziert. Akademische Inhalte werden online und praktische Inhalte in einer Werkstatt in Charkiw vermittelt. Bis jetzt haben 21 die Ausbildung bestanden und dienen als Mentoren für die nächste Generation. „Das sind die einzigen nach internationalen Standards ausgebildeten Orthopädie-Techniker in der Ukraine“, betonte Christian Schlierf. Derzeit laufen Vorbereitungen zum Aufsetzen einer Meisterausbildung in der Ukraine. Diese soll ebenfalls nach ISPO-Standards erfolgen. Hinzu soll eine Ausbildung von Techniker:innen erfolgen, die den Gesell:innen zuarbeiten und nicht an Patient:innen arbeiten sollen.
Prothesen, Orthesen und Einlagen für eine verbesserte Teilhabe
In der Session „Von der richtigen Einlage bis hin zur Prothese. Neues und Altbewährtes“ gaben Mediziner:innen und Techniker:innen gemeinsam Einblicke in Versorgungsvarianten. Die Session stand unter der Leitung von Prof. Dr. med. Dipl. oec. Bernhard Greitemann, Klinik Münsterland am Rehaklinikum Bad Rothenfelde, und Prof. Dr. med. Frank Braatz. Das Themenspektrum war breit gefasst. Es reichte von der Versorgung des Diabetesfußes nach der Überarbeitung des Hilfsmittelverzeichnisses, über neue Techniken in der Einlagenversorgung und deren Vorteile für die Betroffenen. Verbesserte Reintegration in den Alltag durch mikroprozessor-gesteuerte Prothesenkniegelenke oder neue Versorgungsmöglichkeiten bei Lähmungen durch Kniegelenkorthesen am Beispiel der stand- und schwungphasenkontrollierten Orthese standen ebenfalls auf dem Programm. Letzteren Vortrag hielt die Dipl. Orthopädietechnik-Meisterin Mona Seifert-Maciejczyk. Sie zeigte anhand von Beispielen, wie die 2018 zur OTWorld vorgestellte Orthese Menschen mit Lähmungen ermöglichen kann, streckenweise wieder zu gehen. Auch der Einsatz mikroprozessor-gesteuerter Prothesenkniegelenke könne die Lebensqualität steigern, wie der belgische Orthopädietechniker Dries Glorieux in seinem Vortrag erläuterte. „Entscheidend für den Erfolg ist die Balance zwischen der Stabilität des mikroprozessor-gesteuerten Prothesenkniegelenks und den funktionellen Wünschen des Patienten“, erklärte Glorieux.
Diplomatisch und nachdrücklich auf Politik einwirken
„Alle Gewalt geht vom Hilfsmittelverzeichnis und dem Produkt aus“, erklärte der Orthopädieschuhtechnik-Meister Herbert Türk in seinem Vortrag über die Versorgung des Diabetikerfußes – aktuelle Neuerungen durch die Überarbeitung des Hilfsmittelverzeichnisses. „Wir müssen mit Diplomatie und Nachdruck von der Politik fordern, dass der Patient im Zentrum stehen muss, neue wissenschaftliche Erkenntnisse schneller ins Hilfsmittelverzeichnis einfließen und, dass unser Anhörungsrecht bei der Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses nicht ausreicht.“ Dies zeigten auch die jüngsten Fortschreibungen des Hilfsmittelverzeichnisses im August 2022 in der Produktgruppe 31. Der GKV-Spitzenverband habe zwar ins Hilfsmittelverzeichnis den „Spezialschuh bei Diabetischem Fußsyndrom“ für die Risikogruppen II/III aufgenommen, wichtige Kriterien für diesen Schuh seien aber nicht genau definiert worden, wie das Maß der Sohlenversteifung, unterstrich Herbert Türk. Laut Hilfsmittelverzeichnis soll der Spezialschuh mit herausnehmbarer Weichschaumsohle sogar bei Diabetes Mellitus-Patienten mit Sensibilitätsverlust eingesetzt werden. „Das geht gar nicht“, sagte der Orthopädieschuhtechnik-Meister. „Das ist keine individuelle Versorgung, wie es der Patient braucht.“
3D-gedruckte orthopädische Einlagen mit Mehrwert für Patient:innen
Welchen Mehrwert digitale Technologien bei individuellen Einlagenversorgungen haben können, zeigte Dipl.-Ing. Thomas Stief in Baden-Baden am Beispiel einer 3D-gedruckten Einlage. „Die meisten orthopädischen Einlagen (FO), die mittels Einsatzes digitaler, zum Beispiel additiver Verfahren hergestellt werden, bieten bisher keine neuen und für die Versorgung von Patient:innen relevante Eigenschaften“, erklärte Thomas Stief in seinem Vortrag. Ausnahme von dieser Regel sei eine mittels Selektivem Lasersintern (SLS) gefertigte 3D-gedruckte orthopädische Einlage. „Diese unterstützt die fehlende Fußfunktionen bei inadäquat ausgeprägtem Windlass-Mechanismus und verbessert die Lokomotionseffizienz.“ Sein Fazit: Neue und innovative Anwendungen haben großes Potenzial, die individuelle Hilfsmittelversorgung zu verbessern.
Verpflichtet zu kümmern
Ganz im Sinne des diesjährigen Mottos des VSOU „Next Generation“, also der Nachwuchsertüchtigung, lud die Initiative’93 zum Tag der Technischen Orthopädie die Fellows Technische Orthopädie zu einem Seminar und einer Vorstandssitzung nach Baden-Baden ein. Das Jubiläum „30 Jahre Initiative‘93“ bot den Mitgründern Bernhard Greitemann und Prof. Dr. med. Dr. h.c. Joachim Grifka, Chefarzt Asklepios-Fachkrankenhaus Bad Abbach, Gelegenheit für einen Rück- und einen Ausblick. „Die Initiative‘93 ist in vielen Punkten erfolgreich gewesen“, erläuterte Prof. Greitemann. „Ohne die Initiative‘93 und deren Aktivitäten hätten wir die Sichtbarkeit der Möglichkeiten der Technischen Orthopädie verloren. Die konservativen Inhalte inklusive der Technischen Orthopädie müssen im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie dringend gepflegt werden, weil sonst wesentliche Behandlungsmöglichkeiten verloren gehen.“ Besonders würden darunter Problempatientengruppen leiden wie Menschen mit schweren Behinderungen, mit neuroorthopädischen Krankheitsbildern, angeborenen Fehlbildungen oder mit Gliedmaßenverlusten, die jetzt schon in vielen Kliniken nicht mehr adäquat betreut werden könnten. „Wir als Ärzte sind verpflichtet, uns auch um diese Randgruppen zu kümmern!“
„Das war ein erfolgreicher Tag der Technischen Orthopädie auf dem VSOU 2023“, erklärte Prof. Braatz zum Abschluss. „Wir begingen zwei Jubiläen: den zehnten TTO und dreißig Jahre Initiative’93. Wir hoffen, dass wir mit der guten Sichtbarkeit der Technischen Orthopädie und der Orthopädie-Technik hier in Baden-Baden viele junge Leute für unser Fach gewinnen konnten. Ein herzliches Dankeschön an alle, die sich aktiv an unserem TTO beteiligt haben.“ Organisiert wurde der TTO von der Confairmed GmbH.