OT: Wie würden Sie aus Versorgersicht den Begriff „Barrierefreiheit“ definieren?
Lutz Haak: Allgemein gesprochen bedeutet Barrierefreiheit die Bemühung das Umfeld in allen Lebensbereichen so zu gestalten, dass Menschen mit Einschränkungen ein möglichst selbstständiges Leben führen können. Der Begriff wird dabei sowohl für Kommunikations- und Informationssysteme genutzt als auch für verkehrstechnische und bauliche Konzepte. Ist die Berücksichtigung der Barrierefreiheit bei Neubauprojekten relativ problemlos möglich und auch in Normen geregelt, bedarf es bei Bestands‑immobilien häufig individueller Konzeptlösungen. Hier kommt die Kompetenz der Orthopädie- und Reha-Technik ins Spiel.
OT: Das Berufsbild des Orthopädietechnik-Mechanikers ist handwerklich zwar breit gestreut, das Bauhandwerk gehört aber sicherlich nicht originär dazu. Wo sehen Sie hier die spezifische Kompetenz des Sanitätshauses?
Haak: Die Verbraucher sind es gewohnt in Fragen der Hilfsmittelversorgung auf die Kompetenz des Sanitätshauses zu vertrauen. Gerade bei konfektionierten Hilfsmitteln besteht diese Kompetenz aber nicht allein in der Abgabe des Produktes, sondern vor allem in der Bedarfsanalyse und Beratung. Übertragen auf bauliche Maßnahmen bedeutet dies, dass das Sanitätshaus als Berater und Koordinator auftritt.
Faktoren der Bedarfsanalyse
OT: Welche Aspekte sind bei der Bedarfsanalyse zu berücksichtigen?
Haak: Da sind natürlich die funktionellen Einschränkungen des zu Versorgenden zu hinterfragen. Aus meiner Sicht gliedert sich dies in vier große Bereiche. Als erstes steht meist die Frage nach den Bewegungsmöglichkeiten, also nach Einschränkungen im muskuloskelettalen System. Dieser Aspekt adressiert bei gehfähigen Patienten vor allem die Sturzprophylaxe oder die Überwindung von Stufen, bei nicht gehfähigen Patienten die Mobilität mit dem Rollstuhl auch innerhalb der Wohnung. Neben den orthopädietechnischen Hilfsmitteln kommen hier von baulicher Seite Handläufe, Rampen oder Lifte in Betracht. Die Mobilität wird aber nicht nur durch die Bewegungsmöglichkeiten, sondern auch durch die Leistungsfähigkeit des Herz-/Kreislaufsystems inklusive der Lungenfunktion beeinflusst. Neben den bereits erwähnten Liften zur Kompensation der erhöhten Belastung beim Treppensteigen, kann auch die Schaffung von Sitzgelegenheiten, z. B. auf dem Flur zwischen den Stockwerken, für Erleichterung sorgen. Dritter Faktor der Analyse ist die Sehfähigkeit. Die Beratung geht hier neben der Entfernung von Stolperfallen (Teppichkanten, Türschwellen) vor allem auch in den Bereich der Beleuchtung. Als vierter Bereich kommt eventuell die abnehmende Leistungsfähigkeit des Gehirns hinzu. Hier können Orientierungshilfen zum Einsatz kommen, aber auch Kontrollautomatiken (z. B. für den Herd).
OT: Das klingt sehr komplex. Können Sie die Vorgehensweise an einem Beispiel verdeutlichen?
Haak: Nehmen wir an, es stellt sich bei Ihnen ein älterer Patient mit abnehmender Gehfähigkeit zur Rollstuhlberatung vor. Im Gespräch wird deutlich, dass die Wohnung selbst zwar mit dem Rollstuhl erreicht werden kann, dass die Tür zum Badezimmer aber sehr schmal ist. Beim Ortstermin fällt zudem auf, dass es sich bei der Tür um eine nach innen öffnende Schwingtür handelt. Neben Waschbecken und Toilette verfügt das Badezimmer lediglich über eine Badewanne. Die Beleuchtung des fensterlosen Bades erfolgt nur über die Lampen am Spiegelschrank. Als Gesamtkonzept müsste zunächst die Tür verbreitert werden, damit der Patient mit dem Rollstuhl überhaupt ins Bad gelangen kann. Für die Mobilität innerhalb des Bades, aber auch aus Sicherheitserwägungen ist es zudem sinnvoll, die Tür nicht nach innen zu öffnen. Ideal wäre eine Schiebelösung. Die Badewanne müsste durch eine ebenerdige Dusche ersetzt werden, da die Nutzung einer Badewanne für Rollstuhlnutzer sehr schwierig ist. Auch ein höhenverstellbares Waschbecken ist möglich. Begleitend sollte die Beleuchtungssituation verbessert werden. Für diese Maßnahmen werden unterschiedlichste Gewerke benötigt: der Maurer für die Vergrößerung der Tür, der Zimmermann für den Einbau der Schiebetür, der Installateur für die Umwandlung der Badewanne, unterstützt durch einen Fliesenleger, der Elektriker für die Beleuchtungssituation und wahrscheinlich auch ein Maler bzw. Tapezierer, um alles wieder schön zu machen. Natürlich kommt aber auch das Sanitätshaus mit typischen Hilfsmitteln, wie z. B. Haltegriffen zum Einsatz.
OT: Aber wo findet sich in diesem aufwändigen Prozess die Interessenslage des Sanitätshauses wieder?
Haak: Das Sanitätshaus etabliert sich durch die Vernetzung mit den Bauhandwerken und Koordination der Leistungen dem Kunden gegenüber als Systemanbieter. Dies unterstreicht seine Kompetenz und erhöht dadurch nicht unerheblich die Kundenbindung, die gerade bei älteren multimorbiden Patienten einen nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Faktor darstellt.
Die Fragen stellte Ludger Lastring.
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