Das Munevo Drive genannte System ist nach Angaben der Entwickler unter anderem für Patienten mit hohem Querschnitt, mit Multipler Sklerose (MS) und amyotropher Lateralsklerose (ALS) geeignet. Die Technologie soll Betroffenen im Alltag zu einem selbstbestimmteren Leben verhelfen sowie zugleich das Pflegepersonal unterstützen, erklärt Claudiu Leverenz, CEO der Munevo GmbH. Im Interview berichtet er, wie die Sondersteuerung funktioniert, wie es zu der Idee kam und wie die Krankenkassen reagieren.
OT: Wie entstand die Idee zum Munevo Drive?
Claudiu Leverenz: Die ersten Ideen entstanden während eines Entwicklungspraktikums, das während meines Wirtschaftsinformatik-Studiums an der TU München mit BMW durchgeführt wurde und bei dem wir mit der Google- Glass-Technologie experimentieren konnten. Daraus entwickelte sich 2015 das Studentenprojekt Glasschair an der TU. Schon damals haben wir die Zusammenarbeit mit Rollstuhlfahrern und Sanitätshäusern gesucht, um einen wirklich marktfähigen Prototypen zu kreieren. Die begeisterten Reaktionen bestätigten uns darin, das Projekt weiterzuführen. Unterstützt vom Förderprogramm Exist des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, gründete ich Anfang 2018 mit drei weiteren TU-Absolventen Munevo. Ende 2018 erhielt Munevo Drive das CE-Kennzeichen, wurde als Medizinprodukt zugelassen und ist nun seit Januar 2019 auf dem deutschen Markt erhältlich. Inzwischen sind wir etwa zwölf Leute – neben uns Gründern zwei Festangestelltesowie Studenten, die uns unterstützen.
OT: Was verbirgt sich hinter dem Produkt?
Leverenz: Munevo Drive ist eine neu entwickelte Smartglass-Anwendung, die komfortabler ist als eine Kinnsteuerung sowie mehr Möglichkeiten bietet. Anders als bei der Kinn- oder Hinterhauptsteuerung hängt die Möglichkeit, den Rollstuhl zu steuern, nicht mehr von der Positionierung des Nutzers ab. Veränderungen der Sitzposition oder der eigenen Bewegungsumfänge gleicht der Nutzer selbstständig durch Kalibrierung der App aus. Das Systemist zudem viel kleiner und damit weniger sperrig als die Kinnsteuerungsmodule bzw. ‑apparate. Das erleichtert Physiotherapeuten und Pflegepersonal die Arbeit, da das Herausheben aus dem Rollstuhl unkomplizierter ist. Darüber hinaus kann sich der Betroffene den Rollstuhl über die Smartglass-App ans Bett heranholen.
OT: Wie funktioniert diese Steuerung?
Leverenz: Kernstück ist eine Applikation („Munevo App“), welche die in den smarten Datenbrillen verbaute Sensorik nutzt, um Kopfbewegungen in Steuersignale zu übersetzen. Diese Signale werden mithilfe eines speziellen Adapters von der Smartglass drahtlos an die Kontrolleinheit des Rollstuhls weitergeleitet, der sie in Fahrsignale umwandelt. Dies ermöglichen das freihändige Fahren und Steuern des Rollstuhls. Durch die dabei verwendete Bluetooth-Technologie lassen sich zudem weitere Geräte wie zum Beispiel Smartphones oder Smart-Home-Komponenten einbinden. Munevo Drive funktioniert mit nahezu allen elektrischen Rollstühlen. Der Adapter wird ohne aufwändige Installation von Gerätetreibern per „Plug & Play“ am Rollstuhl angeschlossen. Diese einfache Montageist für Fachhändler besonders interessant.
OT: Welche zusätzlichen Funktionen bietet das System – ergänzend zur Rollstuhlsteuerung?
Leverenz: Die Datenbrille ist mit einer Digitalkamera ausgestattet, mit der die Nutzer fotografieren und die Aufnahmen teilen können. Über das Menü der Brille lässt sich zudem die Sitzeinstellung verändern. Gegenwärtig arbeiten wir daran, Smart-Home-Lösungen anzudocken, damit Komponenten wie die Lichtsteuerung über die Datenbrille bedienbar sind. Diese Funktionalitäten kommenvoraussichtlich noch in diesem Jahr. Die Brille kann wie eine Computermaus verwendet werden und genauso Smart‑phones ansteuern. Wir sind bereits in der Lage, den Kinova- Roboterarm und den iArm von Assistive Innovations/Reha- Med zu integrieren und mit der Brille zu bewegen.
OT: Wie schnell lernen die Nutzer Munevo Drive zu bedienen?
Leverenz: Nach Anschließen des Adapters und Starten der App kann es sofort losgehen. Nur 20 Minuten – und die Nutzer beherrschen die Steuerung. Vor dem rechten Auge befindet sich ein Head-up-Display, auf dem das Menü und die verschiedenen Bedienungselemente zu sehen sind. Mit Kopfbewegungen wird durch das Menü navigiert. Während des Fahrens zeigen farbige Pfeile an, in welche Richtung man sich bewegt. Wir haben Wert auf eine intuitive Bedienoberfläche gelegt. Eine Studie des Klinikums rechts der Isar der TU München mit 14 Patienten ergab, dass die Steuerung über Smartglasses Menschen mit verschiedenen Einschränkungen tatsächlich eine sichere Kontrolle des Rollstuhls erlaubt. Die Studienteilnehmer absolvierteneinige Parcours und fuhren frei. Die Resultate wurden am 18. Juli 2019 akzeptiert und werden demnächst veröffentlicht. Außerdem sind wir bestrebt, unsere Software und Bedienerführung ständig weiter zu verbessern sowie dem Nutzerverhalten anzupassen. Dabei lernen wir aus anonymisierten Nutzungsdaten. Zuletzt haben wir das Menü etwas umstrukturiert, sodass die häufig verwendete Funktion „Sitzanpassung“ auf Wunsch direkt an erster Stelle sichtbar wird.
OT: Welches Vertriebsnetz haben Sie bislang aufgebaut?
Leverenz: Mehr als 20 Sanitätshäuser bundesweit bieten unser System inzwischen an, weisen die Nutzer ein und übernehmen die Wartung. Wir arbeiten mit Rollstuhlherstellern zusammen, unter anderem in der Schweiz mit der Firma SKS Rehab. Zudem haben wir einen exklusiven Vertriebspartner für Österreich, die Firma Rammer. An Sanitätshäuser in der Schweiz, Österreich, Dänemark, den Niederlanden und Israel haben wir Demonstrationsmodelle verschickt. 2020 wollen wir in den USA starten. Eine große Herausforderung ist, die verschiedenen Gesundheitssysteme zu verstehen und unser System den Nutzern erfolgreich als erstattungsfähig anbieten zu können. Zurzeit suchen wir mit aller Kraft nach Vertriebspersonen für Deutschland und international. Denn wir erhalten zahlreiche Anfragen aus den Kliniken, in denen wir Munevo Drive vorgestellt haben, aber ebenfalls von potenziellen Nutzern oder Angehörigen. Um alle Anfragen abzuarbeiten, brauchen wir Unterstützung.
OT: Übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten?
Leverenz: Vier Kostenübernahmen sind per Einzelfallprüfung durch gesetzliche Krankenkassen in Deutschland inzwischen erfolgt, darunter von der DAK-Gesundheit und der Techniker Krankenkasse (TK). Wir unterstützen die Sanitätshäuser dabei, die richtigen Argumente zu finden, um einen Antrag gegenüber der Krankenkasse zu begründen. Wir haben Munevo Drive bei verschiedenen Krankenkassen vorgestellt und stets ein positives Feedback erhalten. Eine Kostenübernahme können wir in Österreich verzeichnen – durch die Versicherungsanstalt öffentlich Bediens‑teter (BVA). Rund 11.000 Euro kostet Munevo Drive.
OT: Planen Sie weitere Finanzierungsvarianten?
Leverenz: In Kürze führen wir ein Mietkonzept für bestimmte Erkrankungen wie ALS ein. Das könnte nicht nur für die Krankenkassen attraktiv sein, sondern ebenso für Betroffene, die unser System privat finanzieren möchten. Wir denken des Weiteren über Softwarepakete mit Zusatzfunktionen nach, die Nutzer erwerben können. In diesem Zusammenhang ist allerdings auch der Vorstoß zum Thema Apps auf Rezept aus dem Bundesgesundheitsministerium vielversprechend. Unlängst hat das Bundeskabinett den Entwurf des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) beschlossen. Demnach sollen Ärzte künftig Gesundheits- Apps verschreiben können – und die gesetzliche Krankenversicherung trägt die Kosten.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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