Für sein Engagement bei der medizinischen Betreuung von Spitzensportler:innen ist der Orthopäde und Unfallchirurg beim 39. Jahreskongress der Gesellschaft für orthopädisch-traumatologische Sportmedizin (GOTS) nun zum Sportarzt des Jahres 2024 gekürt worden. Im Gespräch mit der OT-Redaktion bezieht Schöffl Stellung zu aktuellen Herausforderungen im Spitzensport und erläutert, warum man als Ärztin bzw. Arzt auch mal am Ende der medizinischen Versorgungskette stehen kann.
OT: Prof. Schöffl, herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung als GOTS-Sportarzt des Jahres 2024! Was bedeutet diese Ehrung für Sie persönlich und für Ihre Karriere?
Volker Schöffl: Ich habe mich sehr über die Auszeichnung gefreut und bin auch sehr überrascht gewesen, dass die Wahl auf mich gefallen ist. Ich freue mich, dass meine Arbeit von den Kollegen und Kolleginnen so stark gewürdigt wird. Aber es ist auch immer eine Auszeichnung meines gesamten Teams, denn ohne meine Mitarbeiter wäre das gar nicht möglich. Somit freuen wir uns alle gemeinsam darüber.
OT: Sie haben sich in Ihrer beruflichen Laufbahn insbesondere dem Klettersport verschrieben. Was hat Sie dazu motiviert, sich auf diesen Bereich zu spezialisieren?
Schöffl: Mein persönliches Interesse hat mich dazu motiviert, mich im Klettersport zu engagieren. Ich habe jahrelang selbst Wettkämpfe geklettert und betreibe den Sport seit über 30 Jahren relativ intensiv. Dadurch war ich selbst mit Verletzungen konfrontiert und wollte auch anderen Kletterern weiterhelfen. Am Anfang war die Literaturlage noch sehr dünn, aber man konnte sich relativ einfach und effektiv wissenschaftlich „austoben“. Es gab viele Fragestellungen, die offen waren und einem einen großen Spielraum ließen, um sich einzubringen und spannende Untersuchungen zu machen. Letztendlich war es die Begeisterung für den Sport und die Erforschung von Verletzungen und spezifischen biomechanischen Gegebenheiten, die mich in die Wissenschaft geführt hat. So habe ich mich dann in einem Umfeld wiedergefunden, in dem ich später auch extern habilitieren durfte.
OT: Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte umfassen u. a. Verletzungen und Überlastungserscheinungen im Klettersport. Was sind die häufigsten Verletzungen, die Sie bei Kletter:innen behandeln?
Schöffl: Schaut man sich die häufigsten Verletzungen im Klettersport an, so sieht man – vor allem beim Bouldern – Absprungverletzungen, heißt: Sprunggelenksverletzungen wie Frakturen, Distorsionen und Außenbänderrisse. In meiner Klientel stellt sich das gänzlich anders dar, da viele Patienten für eine Zweitmeinung zu mir kommen. Während eine Sprunggelenksverletzung überall in Deutschland adäquat, sofort und effektiv behandelt wird, sind es doch spezielle Kletterverletzungen, aufgrund derer die Sportler durchaus den weiten Weg nach Bamberg auf sich nehmen. Finger‑, Hand- und Schulterverletzungen, insbesondere Ringbandverletzungen, chronische Entzündungen der Fingermittelgelenke, Sehnenscheidenentzündungen im Bereich der Finger und an der Schulter, vor allem Luxationen und SLAP-Läsionen, stehen bei meiner Klientel an erster Stelle.
Konservativ vor operativ
OT: Wann ist eine Operation notwendig, wann braucht es konventionelle Methoden?
Schöffl: Es ist schwierig, das pauschal zu beantworten. Ich versuche immer, den konservativen Weg so weit wie möglich zu gehen und bin ein großer Fan von Stabilisierungstraining, Ausgleichstraining, Adaptation des Trainings, physiotherapeutischer Therapie und weiteren konservativen Maßnahmen. Ich biete – vielleicht auch etwas untypisch für einen Arzt – in einem Traumazentrum Level 1 viele konservative Maßnahmen wie Stoßwellentherapie und Akupunktur selbst an. Allerdings kommt man auch an den Punkt, an dem eine konservative Therapie die Beschwerden nur verlängern würde und eine operative Versorgung unausweichlich ist.
OT: Welche Rolle spielen Hilfsmittel auch bei der Prävention?
Schöffl: Es gibt wenig Evidenz, dass Hilfsmittel wie Orthesen, Schienen und Bandagen im Klettersport präventiv notwendig sind. Wir verwenden Tape häufig in der Sekundärprävention nach Verletzungen, in der Primärprävention hat sich Tape in Studien als nicht effektiv erwiesen. Zum Ausgleichs- und Stabilisierungstraining haben wir ein eigenes Programm entwickelt, das sogenannte „Adjunct Compensatory Training“ (das pdf kann unter sozialstiftung-bamberg.de kostenlos heruntergeladen werden, Anm. d. Red.). Wir versuchen, damit die uniforme Belastung zu reduzieren und entsprechende Ausgleichsübungen zur aktiven Stabilisierung des Bewegungsapparates zu geben. Wir haben dies wissenschaftlich evaluiert und es zeigt sich eine signifikante Besserung von unspezifischen Schulterschmerzen bei Kletterern.
Fokus auf Prävention
OT: Mit Blick auf die vergangenen Jahre: Welche Entwicklungen oder Forschungsergebnisse haben die Sportmedizin Ihrer Meinung nach am meisten beeinflusst?
Schöffl: Das betrifft vor allem die Aufnahme von Präventivprogrammen. Es hat sich deutlich herauskristallisiert, dass sie wirksam und effektiv und ein Weg sind, um Verletzungen geringer zu halten. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass viele Jugendliche im Hochleistungssport unterwegs sind und wir die Primärprävention unbedingt bei Kaderuntersuchungen mit einbeziehen müssen.
OT: Wer Leistungssport betreibt, will immer alles geben und nach Verletzungen schnell wieder das Training aufnehmen. Dabei müssen Sie Ihren Patient:innen bestimmt ab und zu einen Riegel vorschieben. Wie gehen Sie mit der Rolle des „Spielverderbers“ um?
Schöffl: Die Rolle des Spielverderbers nehme ich viel seltener ein, als man vielleicht denkt. Ich bin der festen Überzeugung, dass es meine Aufgabe ist, die Athleten – wenn denn verantwortbar – zunächst unter weiterlaufendem, adaptiertem Training zu behandeln, anstatt sie ganz aus der Belastung herauszunehmen. Das nimmt den Sportlern viel Druck. Es gibt nur wenige Verletzungen, zum Beispiel Wachstumsfugenfrakturen der Finger, bei denen ich eine absolute Sportpause empfehlen muss. In solchen Fällen bedeutet das aber nur eine absolute Pause von fingerbelastenden Bewegungen. Die Athleten dürfen natürlich Schwimmen gehen oder Radfahren. Anders sieht es bei einer akuten Herzmuskelentzündung aus – hier ist ein Verbot absolut notwendig. Das ist aber wirklich die Ausnahme. Als betreuender Arzt im Spitzensport muss man die Athleten während des Trainings begleiten und Gewohnheiten unterstützen und nicht einfach Verbote aussprechen. Mit Verboten kommt man nicht weit, die werden eh nicht akzeptiert und schränken auch die eigene Glaubwürdigkeit ein.
OT: Sie sind selbst aktiver Kletterer, waren Expeditionsleiter und Arzt mehrerer Kletterexpeditionen, z. B. in Nepal, Borneo, Thailand, Laos und Burma. Wie schwer fällt es Ihnen, privat und bei solchen Einsätzen auf sich selbst achtzugeben?
Schöffl: Es fällt mir eigentlich nicht schwer, auf mich selbst achtzugeben. Aber wenn man bei einer Expedition als Arzt dabei ist, ist man der Einzige, der medizinisch nicht versorgt ist. Dessen muss man sich bewusst sein. Als Expeditionsarzt hat man das geringste medizinische Backup. Ich habe schon vor Expeditionen Teilnehmer angelernt, dass sie mir im Notfall, zum Beispiel bei einem Schlangenbiss, das Antiserum spritzen können. Ich selbst habe schon einige Verletzungen erlitten. Das prägt einen und man lernt dadurch manche Dinge wieder zu schätzen. Ich war so glücklich, als ich mich zehn Tage nach meiner Fersenbeinfraktur in die Obhut des Krankenhauses in Bamberg begeben und der hohen ärztlichen Kompetenz meiner Kollegen vertrauen konnte.
RED-S-Syndrom in der Diskussion
OT: Ihr Rücktritt aus der Medical Commission des Kletterverbandes IFSC im Jahr 2023 war ein starkes Statement. Jahrelang haben Sie die Kommission, Trainer:innen und Funktionäre zum Thema RED-S-Syndrom (Relative Energy Deficiency in Sport) beraten. Dieses Syndrom kann als Folge von Essstörungen, Untergewicht und maximaler Erschöpfung schwerwiegende und langfristige gesundheitliche Folgen mit sich bringen – von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Unfruchtbarkeit bis hin zum Tod. Trotz Ihrer Bemühungen, auf die Risiken hinzuweisen und Änderungen herbeizuführen, sahen Sie keine ausreichenden Fortschritte im Verband und entschieden sich daher, mit Ihrem Rücktritt ein Zeichen zu setzen. Inwiefern haben Sie versucht das Thema ins Blickfeld des Verbandes zu rücken und wie ist er damit umgegangen?
Schöffl: Wir haben das Thema RED‑S seit 2007 in der Medizinischen Kommission bearbeitet und jährlich in unseren Stellungnahmen an den Weltverband schriftlich darauf hingewiesen. Wir haben über die Jahre den BMI (Body-Mass-Index, Anm. der Red.) bei unseren Weltcup-Athleten gemessen und Lösungsvorschläge entwickelt. Leider wurden diese von der IFSC nicht umgesetzt und wir nur hingehalten. Nicht nur der Klettersport hat dieses Problem, sondern alle Sportarten mit Gewichtsklassen. Es gibt große Metaanalysen, die die Zahl der betroffenen Athleten mit bis zu 18 Prozent im Spitzensport über alle Sportarten beschreiben. Beim Klettern liegen wir bei den Gewichtsklassensportlern sicherlich im Durchschnitt, aber der wesentliche Unterschied ist der, dass wir beim Klettersport die einzigen sind, die über mehrere Jahre hinweg BMI-Messungen bei allen Weltcup-Athleten durchgeführt haben. Wir haben eine riesige Sammlung an Erfahrung und Daten. Wir hätten dieses Ergebnis – und das als kleine Sportart und olympischer Neuling – in einer Vorreiterrolle nutzen können, um die Athleten zu schützen und das Problem anzugehen. Aber der Weltverband sieht sich dazu weder in der Lage, noch ist er anscheinend bereit, in irgendeiner Form die Verantwortung zu übernehmen.
OT: Welche Veränderungen haben Sie seither in der Kletterszene beobachtet?
Schöffl: Auf unseren Druck hin sind jetzt Maßnahmen ergriffen worden – hier muss ich mich sehr bei den Medien und bei den Kletterern bedanken, die aktiv unterstützen. Diese Maßnahmen greifen meiner Meinung nach aber nicht. Ich sehe sie im Wesentlichen als Augenwischerei. Der Weltverband zieht sich aus der Verantwortung und wälzt diese komplett auf die nationalen Verbände ab. Ein nationaler Verband ist und kann aber nie ganz objektiv sein, wenn es um die Nominierung von Athleten geht.
Es wurde ein Fragebogensystem entwickelt, das meiner Meinung nach und nach Meinung vieler Kollegen nicht greift, weil die Athleten nicht ehrlich antworten. Wir werden weiter an dem Thema arbeiten, im Hintergrund aktiv bleiben und versuchen Lösungen für den Sport und die Sportler zu finden. Wenn man selbst aus dem Leistungssport kommt, weiß man, dass das eine schwierige Gratwanderung ist. Auch ich habe als Athlet durchaus unsinnige Diäten gemacht, um mein Gewicht niedrig zu halten. Ein wirkliches RED‑S hatte ich nie, aber das Thema ist omnipräsent. Ich denke, dass man durch weitere öffentliche Diskussionen, Informationen, Gespräche mit den Athleten sowie Aufklärungsarbeit viel erreichen kann, wobei wir das bereits seit 20 Jahren machen.
Es wird sicherlich noch weiterer Maßnahmen und Zeit bedürfen. Jetzt gilt es erst einmal, die Saison 2024 am Ende des Jahres zu analysieren. Dann wird man sehen, ob das System des Weltverbandes greift oder ob es reine Augenwischerei ist. National haben wir ein griffiges Konzept mit dem Deutschen Alpenverein, welches sich bereits seit Jahren bewährt hat. Es wäre schön, wenn wir auch international hierhin kämen. In der Szene ist das Thema jetzt auf jeden Fall deutlich präsenter. Ich war selbst überrascht über den großen medialen Sturm, den das Thema ausgelöst hat und auch über die vielen positiven Reaktionen, die ich von Kolleginnen und Kollegen aus dem sportmedizinischen Umfeld erhalten habe.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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