„In den vergangenen 30 Jahren hat sich in der Armprothetik für die Patienten zu wenig getan“, sagt Prof. Dr. med. David Liebetanz, Oberarzt an der Klinik für Klinische Neurophysiologie, der Universitätsmedizin Göttingen. Hightech finde in Deutschland vornehmlich in den Laboren statt und komme viel zu wenig beim Patienten an, so der Neurologe. Das würden die Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen (Prof. Dr. David Liebetanz), der Universitätsklinik Heidelberg (Priv.-Doz. Dr.-Ing. Rüdiger Rupp) und des Karlsruher Instituts für Technologie (Priv.-Doz. Dr.-Ing. Markus Reischl) gerne ändern, die bereits vor einem Jahr eine Studie zu ihrem gemeinsam entwickelten Prototyp einer zusätzlichen Ohrsteuerung für Armprothesen vorgelegt hatten.
Die Idee
„Derzeit können Patienten mit konventionellen Steuerungen der Armprothesen über die Unterarmmuskulatur die Hand nacheinander auf und zu machen oder drehen. Im Alltag brauchen Menschen aber oft beide Funktionen gleichzeitig“, erklärt Liebetanz. Deshalb wollten die Wissenschaftler mithilfe einer Steuerung über die Ohrmuskulatur eine zusätzliche Steuerung und damit einen weiteren Freiheitsgrad für die Patienten entwickeln. „Uns ging es nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern mit dem zusätzlichen, sehr wertvollen Signal von der Ohrmuskulatur die Gesamtleistung der Armprothese für die Patienten deutlich zu verbessern.“ Der Grundgedanke dahinter: Die Wissenschaftler hatten bereits 2013 eine Studie vorgelegt, die die Steuerung von Rollstühlen per Ohrmuskulatur zeigte. Da die Signale vom Ohr universell seien, müssten sie auch für die Steuerung anderer Gegenstände tauglich sein. Denn fast jeder Mensch könne die Ohrmuskulatur willentlich aktivieren, wenn er diese Fähigkeit gezielt trainiere. „Dafür reicht es aus, eine Woche lang täglich eine halbe Stunde zu üben“, so Liebetanz. „Patienten, die bereits mit ihren Ohren wackeln können, brauchen maximal eine halbe Stunde, um mit unserem Prototyp für die Armprothesen umgehen zu können.“
Die erste Studie
Um den prinzipiellen Beweis der Funktionsweise – den „proof of principle“ – zu erbringen, ließen die Wissenschaftler zehn Probanden vier Stunden lang den Prototyp Prothesensteuerung per Ohrmuskulatur im Labor testen. Laut dieser Studie zeige sich, dass mit der Ohrsteuerung eine gleichzeitige Ansteuerung der Handdrehung und ‑öffnung bzw. ‑schließung möglich sei. Das Öffnen und Schließen der Hand wurde wie bei konventionellen Steuerungen über die Unterarmmuskulatur gelenkt. Darüber hinaus konnte die Hand direkt mit der Ohrmuskulatur gedreht werden. Mit der zusätzlichen Ohrsteuerung kontrollierten die Probanden die Handprothese wesentlich schneller als mit den bisherigen Steuersystemen, sie machten auch bedeutend weniger Fehler, wie die Autoren der Studie betonen.
Der Prototyp
Der noch im experimentellen Stadium steckende Prototyp besteht aus einem Draht, der unterhalb der Haut seitlich vom Ohr angebracht wird und die dort empfangenen elektrischen Signale drahtlos an einen Rechner überträgt. Im Computer werden diese gemeinsam mit den Signalen aus dem Armstumpf verarbeitet und die entsprechenden Impulse an die Armprothese aus dem Labor des Entwicklungsteams weitergeleitet.
Die nächsten Schritte
In Zukunft solle, so Liebetanz, ein Implantat unterhalb des Ohres eingesetzt werden, das die Signale per Funk direkt an einen Chip in einer handelsüblichen Armprothese sendet. Ein Implantat sei für Dauernutzer wesentlich angenehmer und natürlich könnten die Patienten nicht ständig mit einem externen Rechner verknüpft werden. Für diese Weiterentwicklung benötige das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt aber die Unterstützung der Industrie. „Bisher reagiert die Industrie leider sehr zurückhaltend“, erklärt der Neurologe abschließend. „Wir sind quasi in den Startlöchern und führen vielversprechende Gespräche mit Forschungseinrichtungen, um unsere universell einsetzbare Ohrsteuerung weiterzuentwickeln, damit diese Innovation auch bei den Patienten ankommt.“
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