In diesem Jahr war OTM Lorena Klingebiel, Produktentwicklerin beim Hilfsmittelhersteller Ottobock, dabei und machte sich auf den Weg nach Nordamerika. Im Gespräch mit der OT-Redaktion berichtet die 29-Jährige von ihren Erlebnissen und inwiefern sie davon zurück in Deutschland profitiert.
OT: Warum hatten Sie sich für das Stipendium beworben?
Lorena Klingebiel: Als ich hörte, dass es die Möglichkeit gibt, sich für das Stipendium zu bewerben, habe ich mir die ehemaligen Berichte durchgelesen und fand spannend, was die Teilnehmer so alles erleben konnten. Außerdem habe ich einen Kollegen, der ebenso teilnehmen durfte und genauso begeistert berichtete. Meine Erwartungen wurden dabei mehr als erfüllt!
OT: Welche Ziele und Einrichtungen standen auf Ihrem Reiseplan?
Klingebiel: Als erstes waren wir in Boston. Dort haben wir Hugh Herr getroffen und haben uns das MIT (Massachusetts Institute of Technology, Anm. der Red.) und MGH (Massachusetts General Hospital, Anm. der Red.) mit verschiedenen Operationen angesehen. Das Spaulding Rehabilitation Center war ebenfalls ein Programmpunkt. Danach sind wir – fast die gleiche Strecke wie von Frankfurt in die Staaten – weiter nach Seattle geflogen. Auf dem Programm standen Besichtigungen der University of Washington, des Seattle VA Medical Centers und ihren Forschungsthemen und von Orthopädie-Technik-Firmen wie Cornerstone und Orthocare Innovations. Die nächsten Stopps waren Minneapolis und Rochester mit der beeindruckenden Mayo Clinic. In Chicago hatten wir mit fast einer ganzen Woche den längsten Aufenthalt der Reise. Bei der AAOP (American Academy of Orthotists and Prosthetists, Anm. der Red.) konnten wir uns verschiedene Hersteller ansehen, Vorträge anhören und hielten auch selbst jeder einen Vortrag. Die Northwestern University stellte den neu geplanten Master-Studiengang vor und das Shirley-Ryan-Institute sein neues Gebäude mit den großzügigen rehatherapeutischen Möglichkeiten und ihrer orthopädietechnischen Werkstatt. In unserer letzten Woche standen Washington DC und Miami auf dem Plan. Das Walter-Reed-Militärkrankenhaus zeigte seine Versorgungs- und Trainingseinrichtungen für die Veteranen und die University of Miami ihr ebenfalls imponierendes neues Gebäude zur Rehabilitation von Patienten.
OT: Das Stipendium ermöglicht es nicht nur zu entdecken, zuzuhören, zu lernen und sich inspirieren zu lassen: Sie waren also nicht nur Beobachterin, sondern auch aktive Gestalterin: Welche Aufgaben kamen Ihnen während des Aufenthalts zu?
Klingebiel: Das Stipendium soll ein Austausch sein zwischen Ärzten und Orthopädietechnikern. Ein gegenseitiges voneinander Lernen und Weitergeben von Erfahrungen und Wissen. Unsere Aufgabe war es demnach auch, unsere tägliche Arbeit zu teilen. In Form von Präsentationen über aktuelle Alltagsthemen durften wir an fast jedem Standort auch unser „täglich Brot“ vermitteln.
OT: Wie haben Sie sich im Vorfeld darauf vorbereitet?
Klingebiel: Ich habe vor allem die Präsentationen vorbereitet. Es waren drei Themen, von denen sich die Gastgeber jeweils eines aussuchen konnten, das sie am meisten interessiert: „Myoelectric transhumeral prosthetic patient care“, „Paralympics behind the scenes“ und „Always one step further – Improvements during KAFO treatment process“. Ansonsten musste ich mir einen neuen Reisepass beantragen und die verschiedensten Formulare für die Besuche ausfüllen.
OT: Was waren die fachlichen Höhepunkte Ihrer Reise?
Klingebiel: Es gab sehr viele interessante Impressionen! Ich hatte zum Beispiel vorher noch nie bei einer Operation zugesehen und ich hatte in den ersten Tagen schon direkt mehrere hintereinander. Das war echt spannend! Es gab außerdem verschiedene Forschungsthemen, die mich auch sehr beeindruckt haben. Beispielsweise wurden von einem instrumentierten Kadaver-Fuß in der Dynamik zwei Röntgenbilder aus verschiedenen Richtungen erstellt, die später zu einem 3D-Bild zusammengefügt wurden. Daraus konnten dann die verschiedenen Belastungen auf die unterschiedlichen Gewebetypen ermittelt werden. Auf so eine Idee muss man erstmal kommen.
OT: Was hat Ihnen die Reise persönlich bedeutet?
Klingebiel: Ich bin überaus neugierig und immer offen für Neues. Die Möglichkeit, mich selbst weiterzubilden, zu vernetzen und das vor allem interdisziplinär ist Anreiz genug, dass ich persönlich etwas mitnehme. Ich bin Orthopädietechnikerin in der Produktentwicklung und deshalb ist es spannend zu erfahren, wie in anderen Unternehmen und Ländern die Forschung und Entwicklung der Technischen Orthopädie vorangeht.
OT: Welcher Moment ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Klingebiel: Es gab zu viele Momente, um hier einen rauszupicken. Jedesmal, wenn wir von einem Standort weggefahren sind, habe ich gedacht, dass ich nun alles gesehen hätte. Als wir dann jedoch beim Neuen ankamen, gab es direkt einen neuen großartigen Moment. Hervorheben möchte ich dennoch die außergewöhnliche Gastfreundschaft. Die Hosts haben uns herzlich empfangen und uns teilweise noch in ihrer privaten Zeit herumgeführt und uns stolz ihr Land gezeigt.
OT: Anderes Land, viele Ortswechsel, viele neue Menschen, Geschichten und Eindrücke: Was waren die größten Herausforderungen für Sie?
Klingebiel: Am Anfang musste ich mich an die Sprache gewöhnen. Das Nativ-English war doch etwas schneller als erwartet. Vor allem, als es bei den Ärzten fachlich sehr in die Tiefe ging. Da habe ich mich dann zum Glück schnell dran gewöhnt. Nach ein paar Tagen merkte ich, dass es sehr herausfordernd war, die neuen Eindrücke und Informationen zu behalten. So viel Input in kürzester Zeit! In Seattle habe ich mir dann eine Tagebuch-App heruntergeladen, damit nichts verloren geht.
OT: Deutschland – Nordamerika: Welche Unterschiede haben Sie mit Blick auf den Versorgungsalltag feststellen können?
Klingebiel: Wie bereits angerissen, waren wir in mehreren Veteranen-Krankenhäusern. Dort ist bei den Versorgungen und in der Rehabilitation sehr viel möglich. Die Verwundeten sollen schließlich schnellstmöglich wieder rehabilitiert werden. Im Gegensatz dazu stehen die „normalen“ Patienten, die wirklich Schwierigkeiten haben, ihre Hilfsmittel finanziert zu bekommen. Da können wir in Deutschland glücklich sein mit unserem Krankenkassensystem. Klar,es gibt hin und wieder Ablehnungen, aber zumindest wird eine entsprechende Grundversorgung sichergestellt.
OT: Inwiefern können Sie die gesammelten Erfahrungen jetzt in Ihren Arbeitsalltag einbringen?
Klingebiel: Ein internationales Netzwerk zu haben, ist eine tolle Grundlage für Kommunikation und Austausch aktueller Themen. Außerdem fördern neu gewonnene Kontakte zu Ärzten das Verständnis einer ganzheitlichen Betrachtung von Patientenversorgungen. Diese ist für die Entwicklung von neuen Produkten essenziell. Hoffentlich kann ich mir auch etwas von der US-amerikanischen Mentalität – Dinge einfach zu machen – mitnehmen. Denn wer Neues ausprobiert und auch Fehlversuche in Kauf nimmt, gewinnt wertvolle Erkenntnisse, aus denen neue Ideen entstehen können. Das ist schließlich Forschung.
OT: Wenn man nicht weiterkommt oder eine zweite Meinung braucht, ist es immer hilfreich, jemanden zu kennen, der jemanden kennt, der jemanden kennt. Während der Reise sind Sie zahlreichen Menschen mit viel Expertise begegnet. Macht sich dieses Netzwerk bereits bezahlt?
Klingebiel: Ja, es macht sich jetzt schon bezahlt. Ich habe meine mitgereisten Ärzte aus dem MHH bereits besucht und werde sie dort fortan regelmäßig bei der Amputationssprechstunde begleiten. Dabei bekomme ich einen Einblick in die Versorgung von Patienten vor und nach Amputationen.
OT: Die Orte und Einrichtungen haben ständig gewechselt. Gleich blieb stets die Fellowship-Gruppe. Wie war die gemeinsame Zeit? Was haben Sie voneinander lernen können?
Klingebiel: Dadurch, dass wir mit den Fachbereichen Orthopädie-Technik, Chirurgie und Orthobionik interdisziplinär aufgestellt waren, haben wir ein gutes Team gebildet und konnten uns gut ergänzen. Je nachdem, in welcher Einrichtung wir waren, konnte jemand anderer die aufgekommenen Fragen beantworten und somit konnten alle voneinander lernen.
OT: Würden Sie anderen Orthopädietechniker:innen empfehlen, sich für das Stipendium zu bewerben?
Klingebiel: Definitiv! Es ist eine einmalige Gelegenheit, in einem fremden Land so viele verschiedene Orte und Einrichtungen in einem kompakten Programm zu erleben. Habt den Mut, euch zu bewerben und der Herausforderung zu stellen! Für Präsentationsthemen kommen zum Beispiel spannende aktuelle – vielleicht etwas außergewöhnliche – Versorgungen aus eurer täglichen Arbeit infrage. Bereitet sie in englischer Sprache zu kurzen Präsentationen vor und schon habt ihr etwas, was ihr den Ärzten in den Staaten zeigen könnt.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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