Wenn der Kaffee am Morgen durch die Maschine läuft, ist nicht nur die Freude auf den Wachmacher groß, sondern vielleicht auch die auf die eintrudelnden Kollegen. Mit den warmen Tassen in den Händen und Gesprächen zwischen beruflich und privat startet die Runde in den Tag. Während das Koffein langsam seinen Weg durch die Blutbahnen nimmt, geht es dann in die Werkstatt. Der Geschmack der bitteren Bohnen liegt noch auf der Zunge und ebenfalls eine noch vage Idee, die später zünden könnte. Vielleicht wissen die Kollegen Rat? Gemeinsam könnte die perfekte Lösung für die bislang nicht ganz ausgereifte Versorgung gefunden werden.
Gemeinsam in der Werkstatt stehen, Ideen austauschen, anpacken, Lösungen finden: Handwerk ist Teamwork. Zwischen Kollegen und auch zwischen Technikern und Patienten. Im Betrieb von Matthias Bauche wird das während und nach der Arbeit gelebt. Morgens gibt es eine Teambesprechung. Wie ist die Stimmung? Wie steht es um die Tagesplanung? Fragen, die es vor dem Startschuss zu klären gilt. Jeden Mittwochnachmittag wird gemeinsam im Garten hinter der Firma gegrillt. Ein offenes Angebot – wer kommt, der kommt; wer nicht kommt, der kommt nicht. Alle können sich bedienen, und wer möchte, kann seinen Senf dazugeben.
Vielfalt schmeckt
In einem Beruf, in dem mit hilfsbedürftigen Menschen gearbeitet wird, ist Einfühlungsvermögen eine Voraussetzung. „Die Empathie, die wir unseren Patienten entgegenbringen, die müssen wir ebenfalls unseren Mitarbeitern entgegenbringen. Das funktioniert nicht, wenn man intern gegeneinander arbeitet“, betont Bauche. Sich als Team zu fühlen, kann positive Auswirkungen auf die Leistung und Motivation haben. Und: „Man findet schneller Lösungsansätze, als wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht.“ Um Hürden gar nicht erst entstehen zu lassen, wird in seinem Betrieb von Tag eins an geduzt – von den Reinigungskräften über die Auszubildenden bis hin zu den Meistern und der Geschäftsführung. Barrieren soll es auch nicht zu den Patient:innen geben. Religion, Hautfarbe und Geschlecht spielen keine Rolle. Stattdessen freut sich Bauche über den Regenbogen in seinem Betrieb – Vielfalt schmeckt.
Jedes einzelne Teammitglied ist wichtig. In Summe machen sie den Betrieb zu dem, der er ist – ein perfekt kombiniertes Gericht. Beim Abschmecken merkte Bauche allerdings: etwas fehlt! Denn mit einer entscheidenden Zutat konnte er die vergangenen eineinhalb Jahre nicht würzen: Nachwuchs. „Unsere Auszubildenden sind das ‚Salz in der Suppe‘. Das ist so erfrischend“, freut er sich über die aktuelle Verstärkung. „Die beiden sind völlig unvoreingenommen, stellen Fragen, auf die wir gar nicht gekommen wären.“
Selbst auf den Geschmack gekommen ist Matthias Bauche 1972. In jenem Jahr begann er seine Ausbildung zum Orthopädiemechaniker. Rückblickend betrachtet er die Zeit als deutlich entschleunigter. Alles, was gefertigt wurde, habe deutlich mehr Zeit in Anspruch genommen, bzw. man habe sich das Mehr an Zeit nehmen können. Während damals langsam und auf kleiner Flamme geköchelt wurde, werde heute direkt auf die höchste Stufe gestellt. „Es muss alles rasend schnell gehen. Alles muss sofort sein“, stellt er immer wieder fest und geht sogar noch einen Schritt weiter: „Zeit geht in vielen Bereichen vor Qualität.“ Ziel sei es beispielsweise, die Patienten so schnell wie möglich aus den Krankenhäusern zu entlassen. Diese Devise brachte laut Bauche den Durchbruch für die orthopädietechnische Industrie. Fertigprodukte von der Stange hätten in schnelllebigen Zeiten wie diesen massiven Erfolg.
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Wenig Anerkennung für viel Leistung
Auf der menschlichen Zunge befinden sich Tausende von Geschmacksknospen, die verschiedene Geschmacksrichtungen erkennen. Denkt Bauche an die Orthopädie-Technik, werden zwei Bereiche gleichzeitig aktiv: süß und bitter. „Dieser Beruf ist einfach klasse“, schwärmt er und spielt damit auf die süße Komponente an. Hier vereinen sich Handwerk und Kommunikation, Präzision und Empathie. Er schätzt die Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft, den therapeutischen- und Pflegekräften sowie vor allem die mit den Patienten. „Wir betreuen viele Kinder bis ins Erwachsenenalter und begleiten viele Erwachsene bis ins hohe Alter.“ Zu erleben, dass die eigens gefertigten Hilfsmittel Teilhabe ermöglichen und den Patienten Lebensqualität zurückgeben, sei das Befriedigendste an dieser Arbeit und das, was den Beruf so süß mache. Doch zu oft bleibe die notwendige Anerkennung für die erbrachten Leistungen aus: „Das ist einfach bitter.“ Während die Patienten enorme Dankbarkeit zeigten, würden die Kostenzahler und Politik dem OT-Handwerk zum Teil wenig Wertschätzung entgegenbringen. „Wir wollen die Stundenverrechnungssätze erhöhen, aber das geht nur in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen“, stellt Bauche fest. Dieser Beruf, in dem so viel geleistet werde, der technisch hochqualifizierte Leute mit gleichzeitig viel Empathie benötige und täglich zwischen verschiedenen Bereichen wie Medizin und Pflege agiere, bekomme aktuell einen Stundenverrechnungssatz angeboten, der im untersten Bereich im Handwerk liegt – das stößt ihm sauer auf. Die Vergütung sei gering, zu gering. Die Folge: „Viele Mitarbeiter, die wir gerne gehalten hätten, verlassen uns, und Auszubildende, die wir gerne hätten, bewerben sich erst gar nicht.“ Die Orthopädie-Technik werde oft als „Schädling“ wahrgenommen, der Geld kostet. Doch die Rechnung gehe am Ende nicht auf, denn: „Durch uns wird viel Geld gespart, da wir die Menschen wieder mobil machen.“ Dass kürzlich die Präqualifizierung für apothekenübliche Hilfsmittel weggefallen ist, führt dem OTM abermals vor Augen, wie intensiv die Branche um Anerkennung kämpfen muss – in diesem Fall gegen eine große und laute Lobby. Den rund 4.500 OT-Betrieben stünden rund 17.300 Apotheken in Deutschland (Stand Anfang 2024) gegenüber. „Wir müssen uns Gehör verschaffen“, erklärt Bauche und fühlt sich dabei von der Politik im Stich gelassen. Es könne nicht erwartet werden, dass Kostenträger und Leistungserbringer die Probleme unter sich lösen. „Es muss Einfluss genommen werden, um Klarheit zu schaffen“, fordert er.
Mehr Klarheit wünscht sich der OTM auch an anderer Stelle. Ginge es nach ihm, würden die Verhandlungen über die Vergütungsstrukturen in der Branche mit dem Bundesgesundheitsminister geführt. Das würde den Prozess deutlich vereinfachen. Es sei der „helle Wahnsinn“, dass aktuell mit jeder Krankenkasse Verträge gemacht werden müssen, wobei mit unterschiedlichen Preisen und Papieren hantiert werde – und das für ein und dasselbe Hilfsmittel. „Die Bürokratie ist der Bitterstoff.“
Wenn Anerkennung das Ziel ist, dann braucht es auf dem Weg dorthin vor allem eins: Bekanntheit. Dass die fehlt, stellt Bauche immer wieder bei den Freisprechungsfeiern der Innung für Orthopädie-Technik Nord fest. Einem Großteil der Angehörigen sei der Beruf „Orthopädietechniker“ vor der Ausbildung ihrer Kinder kein Begriff gewesen. Wie kann es also gelingen, mehr Aufmerksamkeit zu generieren? Bauche wünscht sich, dass der Beruf mehr Einzug in die Medien erhält. „Wie viele Kriminalfilme hat es schon mit Apothekern und Medizinern gegeben? Und wie viele mit Orthopädietechnikern?“, fragt er eher rhetorisch und stellt damit eine Möglichkeit in den Raum. Orthopädietechniker als Kriminelle oder Opfer? Vielleicht ist die Rolle erst einmal unwichtig – Hauptsache, die Zuschauer kommen auf den Geschmack.
Pia Engelbrecht
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