Mono­po­le gefähr­den Versorgung

Noch erscheint die Vertragslandschaft in der Hilfsmittelversorgung in Deutschland stabil. Das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) sowie das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) haben den Verhandlungsvertrag als entscheidend für eine qualitätsgesicherte und wirtschaftliche Versorgung gestärkt.

Das bedeu­te­te das Aus für Aus­schrei­bun­gen und Open-House-Model­le, bei wel­chen die Kran­ken­kas­se als mäch­ti­ge „Ein­käu­fe­rin“ alle Bedin­gun­gen dik­tiert. Aller­dings sorgt eine vier­stel­li­ge Zahl ver­schie­de­ner Ver­trä­ge mit rund 100 Krankenkassen­ für ein recht zer­klüf­te­tes Bild der bun­des­wei­ten Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Teils bestim­men Groß­an­bie­ter als Ver­trags­part­ner der Kran­ken­kas­sen ein­sei­tig Ver­sor­gungs­kri­te­ri­en und Prei­se. Dabei ist nicht sel­ten intrans­pa­rent, nach wel­chen Kal­ku­la­ti­ons- und Qua­li­täts­maß­stä­ben diese­ Ver­trags­ab­schlüs­se zustan­de kom­men. Nor­bert Bert­ram, Geschäfts­füh­rer des Ver­bands Ver­sor­gungs­qua­li­tät Home­ca­re e.V. (VVHC), erläu­tert, wie Mono­po­li­sie­rungs­ten­den­zen die flä­chen­de­cken­de Ver­sor­gung sowie regio­na­le Anbie­ter in Bedräng­nis bringen.

OT: Herr Bert­ram, der VVHC ist mit Man­dat des Bun­des­in­nungs­ver­bands für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT) in Ver­hand­lun­gen mit der DAK-Gesund­heit im Bereich Sto­ma­ver­sor­gung (Pro­dukt­grup­pe PG 29). Die­se Kran­ken­kas­se hat am 1. April 2020 einen Ver­trag mit der GHD Gesund­Heits GmbH Deutsch­land abge­schlos­sen, den Sie kri­ti­sie­ren. Warum?

Nor­bert Bert­ram: Hier wur­de ein bun­des­wei­ter Ver­trag abge­schlos­sen, der maxi­ma­le per­so­nel­le und tech­ni­sche Anfor­de­run­gen ent­hält. Bis zur Ver­öf­fent­li­chung hat­ten wir weder zu den Ver­hand­lun­gen noch zu den Inhal­ten Infor­ma­tio­nen. Wir haben inner­halb des VVHC geprüft, ob wir durch die Sum­me unse­rer Mit­glieds­un­ter­neh­men die auf Lan­des­ebe­ne gefor­der­ten Vor­aus­set­zun­gen die­ses Ver­trags erfül­len kön­nen. Immer­hin ver­tre­ten wir über 60 Pro­zent der Unter­neh­men in der Sto­ma­ver­sor­gung mit ins­ge­samt über 50 Pro­zent Markt­an­teil. Doch wir sind in die­sem Fall an den tech­ni­schen Anfor­de­run­gen geschei­tert, die jedes Unter­neh­men für sich selbst erfül­len muss. Dar­auf­hin haben wir ein Alter­na­tiv­an­ge­bot vor­ge­legt, das hoch­wer­ti­ge und zugleich rea­lis­ti­sche Anfor­de­run­gen ent­hält. Dazu gab es bis­her eben­so wenig eine Rück­mel­dung wie auf unse­re Anfra­ge bezüg­lich regio­na­ler Verträge.

OT: Wor­in liegt das Problem?

Bert­ram: Aus unse­rer Sicht han­delt es sich um einen Markt­aus­gren­zungs­ver­trag, den nur aus­er­wähl­te Leis­tungs­er­brin­ger erfül­len kön­nen. Die Erstat­tung liegt bei 205,00 Euro net­to für die Erst- und 185,00 Euro net­to für die Fol­ge­ver­sor­gung. Doch die Bedin­gun­gen dafür sind nach unse­rer Auf­fas­sung nicht markt­rea­lis­tisch. Und wer die fest­ge­leg­ten Ver­trags­vor­aus­set­zun­gen nicht erfül­len kann, soll sich mit einer deut­lich gerin­ge­ren Ver­gü­tung von zum Bei­spiel 145,00 Euro net­to zufrie­den­ge­ben. Wobei allein der durch­schnitt­li­che Waren­ein­satz schon bei über 90 Pro­zent die­ses nied­ri­ge­ren Erstat­tungs­be­trags liegt. Die­se Alter­na­ti­ve lohnt sich auf­grund der Kos­ten also nicht. Es gibt letzt­lich zwei Ver­trags­kon­struk­te, die bei­de nicht zufrie­den­stel­lend sind.
Aus­gren­zung regio­na­ler Anbieter

OT: Wel­che Bedin­gun­gen wer­den fest­ge­schrie­ben, und wie vie­le Unter­neh­men sind beigetreten?

Bert­ram: Beim GHD-Ver­trag wur­den die tech­ni­schen und per­so­nel­len Anfor­de­run­gen so hoch­ge­schraubt, dass regio­na­le Unter­neh­men die­se kaum oder nicht erfül­len kön­nen. Zu den Vor­aus­set­zun­gen gehö­ren unter ande­rem: eine Kin­der­kran­ken­schwes­ter und zwei Sto­ma­the­ra­peu­ten pro Bun­des­land, zwin­gend eine ISO-Zer­ti­fi­zie­rung, Video- oder Chat­be­ra­tung sowie ein soge­nann­tes Online­tool. Das kön­nen ledig­lich gro­ße bun­des­wei­te Anbie­ter ver­wirk­li­chen. Das Dilem­ma ist: Die Kran­ken­kas­se sagt, sie habe einen hoch­wer­ti­gen Ver­trag geschlos­sen und die Bran­che habe die Moda­li­tä­ten ja schließ­lich ange­bo­ten. Ca. 15 Unter­neh­men haben laut Dar­stel­lung der Kas­se den Ver­trag gezeich­net – was mei­ner Mei­nung nach so nicht stimmt, denn die GHD als der eine „Haupt­ver­trags­part­ner“ wird mit sei­nen Filia­len viel­fach ausgewiesen.

OT: Und beim zwei­ten Vertragskonstrukt?

Bert­ram: Beim zwei­ten, unse­rer Auf­fas­sung nach nicht aus­kömm­li­chen Ver­trags­kon­strukt, sind neben per­sön­li­chen (fach­li­chen) Anfor­de­run­gen auch eine Video- oder Chat­be­ra­tung sowie ein Online­tool ver­pflich­tend. Nach unse­ren Infor­ma­tio­nen soll es 21 Ver­trags­part­ner geben, die zu die­sen Bedin­gun­gen unter­schrie­ben haben. Unse­rer Ansicht nach erfül­len vie­le Unter­neh­men die Ver­trags­vor­aus­set­zun­gen nicht, eini­ge haben nicht ein­mal eine eige­ne Home­page. Hier gibt es also nun einen Spa­gat zwi­schen einer laut Kas­se angeb­lich hoch­qua­li­fi­zier­ten Ver­sor­gung – und der Rea­li­tät mit zwei Ver­trä­gen nach ver­schie­de­nen Standards.

Vor-Ort-Ver­sor­gung geschwächt

OT: Was bedeu­tet das für die Versorgung?

Bert­ram: Im End­ef­fekt fal­len regio­na­le Unter­neh­men aus der Ver­sor­gung her­aus, die gut auf­ge­stellt sind und seit Jah­ren bei den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten einen sehr guten Job machen. Sie müss­ten auf den schlech­ter dotier­ten Ver­trag aus­wei­chen, der nicht wirt­schaft­lich ist. Das ist nicht gerecht­fer­tigt und nicht gerecht, denn sie erbrin­gen die glei­che Ergeb­nis­qua­li­tät wie GHD und ande­re gro­ße Anbie­ter. Dem­zu­fol­ge müs­sen sie die glei­che Ver­gü­tung erhal­ten. Ansons­ten wird auf län­ge­re Sicht die flä­chen­de­cken­de Vor-Ort-Ver­sor­gung geschwächt.

OT: Wel­che Ver­trags­be­din­gun­gen sind für klei­ne Betrie­be beson­ders schwie­rig zu erfüllen?

Bert­ram: Es klemmt bei­spiels­wei­se bei den gefor­der­ten Online­tools oder die Betrie­be kön­nen die im Ver­trag fest­ge­leg­te Kin­der­kran­ken­schwes­ter bzw. ‑pfle­ger pro Bun­des­land nicht vor­wei­sen. Aber nicht mal zwei Pro­zent aller Ver­sor­gungs­fäl­le sind Kin­der. Inso­fern wäre eine Kran­ken­schwes­ter bzw. ‑pfle­ger mit Sto­ma­the­ra­pie-Fort­bil­dung die geeig­ne­te­re Opti­on, denn die Ver­sor­gung von Kin­dern ist Bestand­teil die­ser Ausbildung.

OT: Wie reagiert die Kran­ken­kas­se auf Ihre Einwände?

Bert­ram: Sie gibt sich grund­sätz­lich immer wie­der gesprächs­be­reit – letzt­lich aber immer mit der Maß­ga­be eines nicht näher erör­ter­ten redu­zier­ten Erstat­tungs­prei­ses. Seit Juli 2019, als die Ver­trags­be­kun­dung erfolg­te, schrei­ben wir Stel­lung­nah­men, geben Ange­bo­te ab und füh­ren per­sön­li­che Ver­trags­ver­hand­lun­gen sowie Gesprä­che mit dem Kran­ken­kas­sen-Vor­stand. Wir haben das Bun­des­amt für Sozia­le Siche­rung (BAS) ein­ge­schal­tet, das aber kei­ne Anhalts­punk­te für ein Fehl­ver­hal­ten sei­tens der Kran­ken­kas­se erken­nen konn­te. Wir sind also bis­her nicht zu einem ange­mes­se­nen Ergeb­nis gekommen.
Ergeb­nis­qua­li­tät berücksichtigen

OT: Wel­che Vor­aus­set­zun­gen soll­ten die Kran­ken­kas­sen bei den Ver­hand­lun­gen künf­tig zugrun­de legen, um zu einem für alle Sei­ten fai­ren Resul­tat zu kommen?

Bert­ram: Ich wün­sche mir, dass die Kran­ken­kas­sen mehr auf die Ergeb­nis­qua­li­tät schau­en und dar­auf, was dafür an Vor­aus­set­zun­gen wirk­lich not­wen­dig ist. Gera­de in der gegen­wär­ti­gen ange­spann­ten Kos­ten­si­tua­ti­on wer­den noch Anfor­de­run­gen auf­ge­sat­telt, die mit der Ergeb­nis­qua­li­tät nichts zu tun haben. Und das, obwohl die Prei­se im Seg­ment Home­ca­re seit 20 Jah­ren im Sin­ken sind – bei stei­gen­den Ansprüchen.

OT: Gibt es ähn­li­che Markt­aus­gren­zungs­ten­den­zen bei ande­ren Vertragsabschlüssen?

Bert­ram: Ja, zum Bei­spiel bei einem Ver­trag über auf­sau­gen­de Inkon­ti­nenz­ver­sor­gung der BKK-VBU, der jedoch nicht von uns ver­han­delt wur­de. Bei die­sem Ver­trag gibt es eben­falls Para­me­ter wie ein Online­por­tal, bei denen zu fra­gen ist: Ver­bes­sern sie tat­säch­lich die Ver­sor­gungs­qua­li­tät für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten? Wie auch beim Sto­ma-Ver­trag ist grund­sätz­lich zu fra­gen: Wie nah an der Ver­sor­gungs­rea­li­tät sind die ver­trag­li­chen Ver­pflich­tun­gen? Bil­det der Ver­trag die Rea­li­tät tat­säch­lich ab – oder wird hier der Rest des Mark­tes aus­ge­grenzt? Schluss­end­lich gibt es eine Prä­qua­li­fi­zie­rung, bei der die Leis­tungs­er­brin­ger ihre Ver­sor­gungs­kom­pe­tenz nach­wei­sen müssen.

Ver­bands­ver­trä­ge: Stan­dards entwickeln

OT: Wie geht es jetzt weiter?

Bert­ram: Wir kämp­fen wei­ter für eine ver­nünf­ti­ge Lösung für die gan­ze Bran­che. Denn wir ver­tre­ten auch vie­le klei­ne­re regio­na­le Unter­neh­men. Des­halb muss bei einem Ver­trags­ab­schluss unse­rer­seits gesi­chert sein, dass alle unse­re Unter­neh­men die­sen erfül­len kön­nen. Wir ver­han­deln also jetzt wei­ter. Beim letz­ten Ter­min am 12. Mai hat sich jedoch noch nichts bewegt, und auch aktu­ell haben wir von der DAK kei­ne kon­struk­ti­ve Rück­mel­dung erhal­ten, mit der wir und unse­re Mit­glieds­un­ter­neh­men arbei­ten können.

OT: Besteht eine Lücke zwi­schen dem Wunsch des Gesetz­ge­bers nach Ver­hand­lungs­ver­trä­gen und der Umsetzungsrealität?

Bert­ram: Es gibt für Ver­trags­ver­hand­lun­gen kei­ne gemein­sa­men Richt­li­ni­en für eine qua­li­täts­ge­si­cher­te, ein­heit­li­che Ver­sor­gung, die den Ansprü­chen des § 12 SGB V ent­spricht. Dort heißt es: Die „Leis­tun­gen müs­sen aus­rei­chend, zweck­mä­ßig und wirt­schaft­lich sein.“ Des­halb befür­wor­te ich Ver­trags­ver­hand­lun­gen mit maß­geb­li­chen Spit­zen­or­ga­ni­sa­tio­nen der Bran­che wie BIV-OT, VVHC, RSR, Sani­Ak­tu­ell oder reha­Vi­tal, die eine Viel­zahl unter­schied­li­cher Unter­neh­men ver­tre­ten und fest­ge­leg­ten Qua­li­täts­leit­li­ni­en bzw. ‑stan­dards fol­gen. Mit Ver­bands­ver­trä­gen wäre der Dschun­gel aus tau­sen­den Ein­zel­ver­trä­gen gelich­tet, ein bun­des­weit gül­ti­ger Ver­sor­gungs­rah­men für alle Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten vor­ge­ge­ben. Dies wäre ein ver­nünf­ti­ger Weg zwi­schen Ein­zel­ver­trags­flut und Aus­schrei­bung. Mono­po­li­sie­rungs­ten­den­zen wür­de Ein­halt gebo­ten – und Qua­li­tät wäre nach­prüf­bar. Eine ent­spre­chen­de Geset­zes­in­itia­ti­ve gab es ja bereits – jetzt wäre es an der Zeit, das The­ma wie­der anzu­pa­cken. Schließ­lich zeigt die Coro­na-Kri­se, dass ein Abbau von Büro­kra­tie drin­gend nötig, aber auch für alle Betei­lig­ten umsetz­bar war.

Das Inter­view führ­te Cath­rin Günzel.

Michael Blatt
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