Mehr als 150 Teilnehmer aus Orthopädie-Technik, Medizin, Physiotherapie und Pflege nahmen das Fort- und Weiterbildungsangebot in Zusammenarbeit mit Professor Dr. Christian Lüring, Direktor der Orthopädischen Klinik im Klinikum Dortmund, wahr.
Selbstständigkeit dank Training und Therapie
Im ersten Themenblock, der mit der Überschrift „Standortbestimmung“ eine Einführung ins Thema bot, stellte die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Sabine Kühnert von der Evangelischen Hochschule RWL die Mehrdimensionalität des Alterungsprozesses und die große Variationsbreite dar. Die intrinsischen Kapazitäten, Hörvermögen, Sehkraft, Muskelkraft, Nervenleitfähigkeit und Tastsinn würden im zunehmenden Alter zwar abnehmen, erfahrungsbezogene Fähigkeiten und Resilienz jedoch steigen. Die Grenzen zwischen physiologischem Altern und krankhaftem Prozess seien fließend. Priv.-Doz. Dr. Helmut Frohnhofen vom Alfried Krupp Krankenhaus in Essen und Dr. Andreas Gerlach, Chefarzt der Geriatrie im St.-Marien-Hospital in Lünen, zeigten die physiologischen Veränderungen im Altersprozess auf. Sie betonten, dass angepasstes Training helfe, den Prozess zu verlangsamen. Durch Früherkennen und gezielte Therapie könnten ungünstige Folgen für die Selbstständigkeit reduziert werden.
Mit Hilfsmitteln Stürze vermeiden
Prof. Dr. Kilian Rapp erläuterte aus seinem Tätigkeitsbereich an der Klinik für geriatrische Rehabilitation des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart die Gleichgewichtsstörungen und Sturzproblematik in der Geriatrie. So stürzten ein Drittel der Personen über 65 Jahren ein Mal im Jahr, im Pflegeheim sei die Sturzhäufigkeit sogar doppelt so hoch. Stürze werden häufig multikausal verursacht und passieren überwiegend im Rahmen des Transfers. Es bestehe ein großer Bedarf, vorhandene Hilfsmittel weiterzuentwickeln, um die Krankheitslast, die sich aus Stürzen ergebe, zu reduzieren.
Mehr Selbstbestimmung im Alter
Florian Wernicke vom Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (ZZE) in Freiburg, betrachtete aus Sicht des Sozialforschers den Alterungsprozess und die Lebensphase des Alterns als individuell formbare Größe und betonte die Notwendigkeit, gesellschaftliche Rahmenbedingungen für ein würdevolles Altern zu schaffen und durch die Gestaltung sozialer Netzwerke biographisch bedingte Benachteiligungen Betroffener zu mildern.
Ziel aller Maßnahmen müsse es sein, die adaptiven Fähigkeiten älterer Menschen für ein selbstbestimmtes Leben zu nutzen, fasste Dr. Katrin Bennemann, leitende Oberärztin der Geriatrischen Klinik am Klinikum Dortmund die rege Diskussion zusammen. Daran knüpfte Catharina Niemand, Fachdienst für Senioren der Stadt Dortmund, aus Sicht der Sozialwissenschaftlerin an. Sie erklärte anhand von Statistiken, was darunter zu verstehen ist, dass der demografische Wandel als Megatrend unserer Zeit verstanden werde und welche Veränderungen auf die Stadtgesellschaft zukommen werden. Sie stellte etablierte Wohnformen, wie Wohngemeinschaften und Servicewohnen sowie komplementäre Angebote wie ambulante Pflege und AAL-Lösungen mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen vor.
Ute Kenyon, Inhaberin eines Kranken- und Seniorenpflegedienstes in Dortmund, berichtete von den Merkmalen ambulanter Wohngemeinschaften als Möglichkeit, zeitgemäße Anforderungsprofile an das Wohnen individuell, maßgeschneidert und standortabhängig umzusetzen. Wolfgang Gröting, Leiter des Fraunhofer-inHaus-Zentrums in Duisburg gab einen Überblick zu den bereits bestehenden vielschichtigen und komplexen Smart-Home-Technologien sowie den zu erwartenden Künstliche-Intelligenz-Technologien zur Unterstützung eines selbstbestimmten Lebens im Alter.
Lutz Haak von Orthopädie- und Reha-Technik Koenen in Geestland berichtete aus seiner Erfahrung im Versorgungsalltag des Sanitätshauses. Mit der Zusatzausbildung zur Fachkraft für barrierefreies Wohnen verknüpfte er sein rehatechnisches Wissen über Grunderkrankungen und Versorgungsmöglichkeiten mit den Anforderungen an bauliche und innenarchitektonische Anforderungen der Barrierefreiheit. Diese sei nur im Verbund verschiedener Gewerke möglich, das Sanitätshaus habe jedoch beste Voraussetzungen, mit der erforderlichen Kompetenz als Dienstleister Konzeptlösungen anzubieten, wie er betonte.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich
Dr. Christoph Schäfer, Neurologe mit dem Schwerpunkt Neurorehabilitation und Chefarzt der Johanniter-Klinik am Rombergpark in Dortmund verdeutlichte die Plastizität biologischer Systeme in allen Lebensabschnitten und nahm diesbezüglich konkreten Bezug auf die Rehabilitation von Schlaganfallpatienten. Wesentlicher Ansatz sei hier, die möglichst teilhabeorientierte Benennung von Behandlungszielen nach dem Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF).
Der alternde, oft multimorbide Patient stand auch im Themenblock „Therapie und Rehabilitation“ im Zentrum der Betrachtung. Dr. Wolf Peter Scheitza, Chefarzt der Fachklinik für Orthopädie der MediClin Fachklinik Rhein/Ruhr in Essen, zeigte, wie der multimorbide Patient von der interdisziplinären Zusammenarbeit von Chirurgen, Orthopäden und Altersmedizinern profitiere, die dann auch im Anschluss in der Rehabilitationseinrichtung fortgesetzt werden müsse.
Prof. Lüring stellte dar, dass geriatrische Patienten in einer orthopädischen Klinik aufgrund ihrer Erkrankungsstruktur insbesondere bei internistischen Begleiterkrankungen, wie Diabetes Mellitus, Herzerkrankungen, Tumorerkrankungen oder Osteoporose besonders zu behandeln seien. Auch die bei Gelenkpatienten übliche Nachbehandlung könne Geriatriker überfordern. Daher sei beim Gelenkersatz bei geriatrischen Patienten auch eine individuell abgestimmte, adäquate Nachbehandlung in Zusammenarbeit mit einer geriatrischen Einrichtung unabdingbar.
Priv.-Doz. Dr. Thomas Meiners, Chefarzt des Zentrums für Rückenmarkverletzte an der Werner Wicker Klinik in Bad Wildungen ging im Anschluss auf die gesundheitlichen Herausforderungen der querschnittgelähmten Patienten im Alter ein. Neben Dekubitus und Osteoporose seien Verdauungs- und Miktionsprobleme besondere therapeutische Herausforderungen.
Telemedizin – Medizin mit Potenzial
Längere Selbstständigkeit durch Telemedizin war das Thema von Dr. Ursula Steinert, Leiterin der Forschungsgruppe Alter & Technik an der Charité in Berlin. Studien zufolge stehen Befragte der Telemedizin positiv gegenüber, als Nachteile werden der hohe technische Aufwand zur Implementierung einer flächendeckenden Infrastruktur, das Fehlen eines sicheren Datenschutzkonzeptes sowie die Angst der Patienten, dass der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient verloren gehe, gesehen. Mit der Lockerung des Fernbehandlungsverbots im Jahr 2018 im Rahmen des 121. Deutschen Ärztetages ergeben sich jedoch neue Potenziale räumlich und zeitliche Distanzen zu überwinden, was insbesondere bei geriatrischen und mobilitätseingeschränkten Patienten von Bedeutung sei, wie Dr. Steinert erklärte. Die Komplexität des Krankheitsbildes Osteoporose und die Herausforderungen in der Therapie stellte Prof. Klaus M. Peters, Chefarzt Orthopädie an der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nürmbrecht dar. Hier seien in erster Linie eine frühzeitige Diagnostik und eine gezielte medikamentöse und funktionelle Therapie Stand der Wissenschaft.
Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung im Fokus
Am Abschluss des ersten Tages stand das Thema Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) auf dem Programm. Bis zum 18. Lebensjahr werden Menschen mit geistiger und/oder schwer Mehrfachbehinderung seit Jahrzehnten in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) begleitet. Anschließend werden Betroffene in das Regelversorgungssystem überführt. Neben der haus- und fachärztlichen Betreuung gab es laut der BUFA bislang keine weitere Versorgungsstruktur, die auf die besonderen Barrieren im Leben dieser Menschen eingeht.
Prof. Dr. Stephan Martin vom Diakovere Annastift in Hannover präsentierte daher das Konzept des MZEB Bruno-Valentin-Instituts des Stiftes. Er ging als Ärztlicher Leiter des Diakovere Annastiftes und Landesarzt für Körperbehinderte auf die gesetzlichen Regelungen und die Aufgabenstellung ein. Einschränkungen in Körperfunktionen, und ‑strukturen, in der Aktivität und in der Teilhabe am Leben könnten unter Berücksichtigung der vielschichtigen Beeinträchtigungen wie zum Beispiel der Mobilität, Kommunikation, Erwerbstätigkeit oder Selbstversorgung in die Behandlung einbezogen werden. Prof. Dr. Klaus M. Peters referierte ebenfalls zur Therapie der Betroffenen in einem 2016 errichteten MZEB.
Ein Kompetenzteam verordne dort individuell erforderliche Heilmittel aus Physiotherapie, Ergotherapie und physikalischer Therapie sowie Schmerztherapie, hinzukommen gezielte Hilfsmittelberatungen. Dies erhalte die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Betroffenen,
so der Experte.
Ethik im Blick
Am Samstagmorgen startete das Programm mit einem ethischen Blick auf Mensch-Technik-Systeme. Sabine Theis vom Institut für Arbeitswissenschaft an der RWTH Aachen präsentierte eine Methodik, mit der ethische, rechtliche und soziale Implikationen in die Technikentwicklung mit einbezogen werden können. Sie lud dazu ein, sich aktiv in die Aachener „DenkfabrEthik“ einzubringen.
Versorgungsberichte aus der Praxis
Der Themenblock „Hilfsmittelversorgung der unteren Extremität“ begann mit einem Beitrag von Christian Welsch, Orthopädie-Schuhtechniker-Meister bei der Firma Schindler in Siegen, der auf die Anforderungen in der individuellen Fuß- und Schuhversorgung anhand von praxisbezogenen Fallbeispielen einging. Daran knüpfte Roland Dötzer, Orthopädie-Technik Gießler GmbH, Albstadt mit der Orthesenversorgung bei Knie- und Hüftschmerzen an. Er erklärte, dass der Übergang zwischen konfektionierten, maßkonfektionierten und individuellen Versorgungen fließend sei, wobei das Wissen um die Möglichkeiten individueller Versorgung im Therapieteam zunehmend in den Hintergrund trete.
Hier seien die Kompetenz und das Fachwissen der Orthopädie-Technik gefragt. Im Bereich der Prothetik stellte Andreas Samson, Ottobock, Duderstadt die besonderen Bewegungsprofile und die sich daraus ergebenden Anforderungen moderat aktiver Anwender vor. Er zeigte auf, wie die altersspezifischen Bewegungsabläufe sowie die Anforderungen aus den angepassten Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) konstruktiv im Prothesenkniepassteil berücksichtigt werden können. Adam Baier, Endolite Deutschland GmbH, Kulmbach lenkte in seinem Vortrag den Blick auf die Entwicklung von Prothesenfußpassteilen.
Er legte die Bewegungsanforderungen im Knöchelgelenk zwischen Sitzen-Aufstehen-Stehen-Gehen dar und ging auf die daraus abzuleitenden Anforderungen an ein Prothesenfußpassteil ein. Karsten Müller, Hempel GesundheitsPartner GmbH, Berlin betonte, wie komplex und anspruchsvoll die Rehabilitation amputierter Geriatriker sei. Denn alle Lebensbereiche seien von der Amputation betroffen, sodass große Sorgfalt erforderlich sei, um eine professionelle, ganzheitliche Rehabilitation zu gewährleisten. Über Sturzrisiko und Sturzprophylaxe in der Hilfsmittelversorgung referierte Dipl.-Ing. Merkur Alimusaj, Heidelberg anhand von Fallbeispielen aus der Heidelberger Uni-Klinik. Er betonte, wie wichtig es sei, Negativerfahrungen in der Frühphase zu vermeiden und die Propriozeption als gleichbedeutendes Konzept wie die Biomechanik in die Versorgungsplanung mit einzubeziehen.
Patrizia Kraft, Orthopädie-Techniker-Meisterin im Sanitätshaus Emil Kraft in Dortmund, präsentierte im Themenblock „Gehhilfen, Rollator, Rollstuhl“ aktuelle Beispiele aus dem Bereich Gehstöcke, Unterarmgehstützen und Rollatoren. Sie rief biomechanische Wirkprinzipien in Erinnerung und ging auf Gründe ein, die zur Ablehnung von Gehstützen führen. Auch bei einem so bekannten Hilfsmittel gebe es noch Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Das plötzlich auftretende Einfrieren von Bewegungsabläufen bei an Parkinson Erkrankten stelle eine große Einschränkung für Betroffene dar.
Rüdiger Neumann, Geschäftsführer der Curt Beuthel Orthopädietechnik in Wuppertal, stellte zwei Neuentwicklungen seines Teams vor – einen Anti-Freezing-Stock und eine Anti-Freezing-Stepper-Einrichtung für den Rollator –, die nach eigenen Angaben den erforderlichen Reiz setzen, um eine Blockade aufzuheben. Produktmanagerin Kerstin Ludwig, von der Firma Etac referierte über Vorteile und Grenzen des Posterior-Walkers, der in der Kinderreha ein festes Einsatzgebiet habe. Auch bei Erwachsenen könne das Hilfsmittel zu einer besseren Körperaufrichtung führen, so Ludwig.
Die Sinnhaftigkeit der Versorgung müsse sich jedoch noch bei den Kostenträgern etablieren. Signe Stein, beratende Ingenieurin im Architekturbüro „frei-raum-planen“, Berlin betonte, dass Barrierefreiheit ganzheitlich betrachtet werden und konkret umgesetzt werden müsse. Dass es geriatriespezifische Rollstuhlkonfigurationen und auch spezifische Anforderungen an die Anpassung gebe, machte Sven Burmeister, Geschäftsführer im Sanitätshaus Dohse, Bremerhaven deutlich. Gerade bei älteren Menschen mit eingeschränkter Kraft sei das korrekte Konfigurieren und Anpassen des Rollstuhls von besonderer Bedeutung. Er erläuterte, dass hier mehr Zeit erforderlich sei, die auch bezahlt werden müsse, um den Betroffenen die individuelle Mobilität und Selbstständigkeit zu ermöglichen, denn so Burmeister: „Geriatrische Patienten können mehr!“. Prof. Dr.-Ing. Rolf-Dieter Weege, Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe, betrachtete die technischen Ausführungen von E‑Rollstühlen und Scootern in der Geriatrieversorgung in seinem Vortrag und erklärte, wie wichtig diese technischen Kenntnisse für eine erfolgversprechende Versorgung seien.
Pflege bei geriatrischen Patienten
Im abschließenden Themenblock Alltag und Pflege gab Silke Auler, Fachlehrerin an der BUFA, einen Überblick über orthopädietechnische Versorgungsmöglichkeiten bei Osteoporose. Es wurde auch hier noch Entwicklungsbedarf identifiziert, um die Symptome der Betroffenen effektiv zu lindern. Stefan Burgstaller, Pro Sano Sanitätshaus, Fürstenzell lenkte den Blick auf die Anforderungen bei der Versorgung von Betroffenen mit Pflegebetten und Transferhilfsmitteln. Er wies darauf hin, dass die In-Augenscheinnahme des häuslichen Umfeldes wichtig ist.
Susann Wahrhausen, die einen eigenen ambulanten Pflegedienst in Holle leitet, referierte über den vielfältigen Einsatz von Hilfsmitteln in der Pflege. Sie seien im Pflegealltag nicht mehr wegzudenken. „Hilfsmittel sind ein Gewinn für Pflegebedürftige und Pflegende zugleich“, so Wahrhausen. Um Inkontinenzversorgung drehte sich der Vortrag von Simone Kather, Teamleiterin des Care Teams im Sanitätshaus Beuthel, Wuppertal. Sie zeigte das Einsatzgebiet mit den jeweiligen Vorteilen und Einschränkungen auf und machte deutlich, wie wichtig Fachwissen und Versorgungserfahrung sei, um aus der Vielzahl der am Markt befindlichen Produkte eine individuelle Versorgung zu realisieren.
Olaf Kelz, Vorsitzender des Berufsbildungsausschusses im BIV-OT, fand im Anschluss der Veranstaltung lobende Worte: „Auch mir als erfahrener Orthopädie-Techniker hat das Symposium mit seinem interessanten Programm, guten Diskussionsbeiträgen und der ergänzenden Industrieausstellung noch wertvolle, aktuelle und praxistaugliche Informationen vermittelt. Hier hat sich der Spruch ‚Man lernt nie aus‘ mal wieder bestätigt. Ich freue mich jetzt schon auf das nächste Symposium.“
Das 12. Dortmunder Symposium Technische Orthopädie am 19. bis 20. Juni 2020 wird unter der Überschrift „Fuß: Diagnostik und Versorgungskonzepte“ stehen.
von Stefan Bieringer, Norbert Stockmann
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