Pro­the­tik der obe­ren Extre­mi­tät: Ganz oder gar nicht

Seit gut einem Jahr leitet der Orthopädietechniker-Meister (OTM) Marco Häberlin die Werkstatt vom Sanitätshaus Pfänder in Freiburg – sein Spezialgebiet: Prothetik der oberen Extremitäten. Im Gespräch mit der OT-Redaktion gibt er Einblick in einen aktuellen Versorgungsfall mit beidseitigen Teilhandamputationen.

OT: Nicht jeder OTM wid­met sich der Pro­the­tik der obe­ren Extre­mi­tä­ten. Wie kam es bei Ihnen dazu?

Mar­co Häber­lin: Das galt lan­ge Zeit auch für mich. In der Aus­bil­dung zum Gesel­len von 2006 bis 2010 spiel­te das The­ma kaum eine Rol­le. Erst an der Meis­ter­schu­le, die ich 2014 been­det habe, kam ich mit der Arm­pro­the­tik näher in Berüh­rung. Als es dann 2019 hieß, wir brau­chen einen Qua­li­fi­zie­rungs­nach­weis für die Abrech­nung von Arm­pro­the­sen mit den Kos­ten­trä­gern, stand mei­ne Ent­schei­dung fest: Wenn ich das The­ma ange­he, dann richtig!

So absol­vier­te ich zunächst den Zer­ti­fi­zie­rungs­kurs „Qua­li­täts­stan­dards in der Arm­pro­the­tik“ an der Bun­des­fach­schu­le für Ortho­pä­die-Tech­nik. Aber das reich­te lan­ge nicht. Denn für jedes ein­zel­ne Pass­teil jedes Her­stel­lers benö­ti­gen Sie einen eigen­stän­di­gen Zer­ti­fi­zie­rungs­kurs. Daher lau­tet mei­ne Emp­feh­lung auch an die Kolleg:innen: Beschäf­tigt euch ganz oder gar nicht mit Pro­the­sen für die obe­ren Extremitäten.

OT: Im Moment beschäf­tigt Sie ein beson­de­rer Fall. Was war die Aus­gangs­la­ge bei Ihrem aktu­el­len Patienten?

Häber­lin: Der jun­ge Mann hat­te sich vor einem Jahr Erfrie­run­gen an allen vier Glied­ma­ßen zuge­zo­gen. Sowohl die Zehen als auch die Fin­ger muss­ten dar­auf­hin weit­ge­hend ampu­tiert wer­den. Gleich­zei­tig lei­det er an einer Wundheilungsstörung.

OT: Wann und wo haben Sie ihn erst­mals getroffen?

Häber­lin: Wir arbei­ten seit Jah­ren sehr gut und eng mit der Uni­kli­nik in Frei­burg – Kli­nik für Plas­ti­sche und Hand­chir­ur­gie im Bereich der Pro­the­tik­ver­sor­gung von Hän­den, Unter- und Ober­ar­men sowie Schul­tern zusam­men. Das Ärz­te­team hat­te uns im Juli 2021 gebe­ten, den Pati­en­ten anzu­schau­en und ihn gemein­sam über Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten zu informieren.

OT: Was dar­in war Rou­ti­ne, was erfor­der­te beson­de­res Augenmerk?

Häber­lin: Eine Rou­ti­ne in dem Sin­ne gibt es nicht, dafür sind die Ver­sor­gun­gen obe­rer Extre­mi­tä­ten zu kom­plex. Des­halb ergibt es auch Sinn, sich auf die­ses Fach­ge­biet ganz und gar zu kon­zen­trie­ren. In Fall unse­res Pati­en­ten muss­ten wir erst mal dafür sor­gen, dass er wie­der selbst­stän­dig gehen konn­te. Denn das hat er als sei­ne obers­te Prio­ri­tät genannt. Das ergab auch inso­fern Sinn als sei­ne Wund­hei­lungs­stö­rung an den Füßen weni­ger aus­ge­prägt war. Erst im zwei­ten Schritt ging es um die Ver­sor­gun­gen der obe­ren Extre­mi­tä­ten mit Pro­the­tik. Hier hal­te ich mich grund­sätz­lich an die im Kom­pen­di­um „Pro­the­tik der obe­ren Extre­mi­tä­ten“ beschrie­be­ne Vor­ge­hens­wei­se. Beson­de­res Augen­merk lag in die­sem Fall auf den unter­schied­li­chen Zustän­den der Teilhände.

OT: Wor­in unter­schie­den sich die bei­den Hän­de und was bedeu­te­te das für Ihre Herangehensweise?

Häber­lin: An der lin­ken Hand ver­fügt der Pati­ent über Teil­funk­tio­nen, da die Fin­ger nicht kom­plett ampu­tiert wur­den. Eine Rest­be­weg­lich­keit erlaubt ihm das Grei­fen von Gegen­stän­den. Aller­dings ist an die­ser Hand die Wund­hei­lung beson­ders lang­wie­rig. Die rech­te Hand wie­der­um hat etwas weni­ger lan­ge nach der Ampu­ta­ti­on gebraucht, um zu hei­len. Hier ist aber nur eine Rest­funk­ti­on im ste­hen­ge­blie­be­nen Daum­stumpf zu ver­zeich­nen. Des­halb haben wir uns gemein­sam mit dem Team von Ärzt:innen und Ergotherapeut:innen sowie dem Pati­en­ten für die Wie­der­her­stel­lung der Greif­funk­ti­on an der rech­ten Hand entschieden.

OT: Wie stel­len Sie die Greif­funk­ti­on wie­der her?

Häber­lin: Dazu haben wir eine myo­elek­tri­sche Teil­hand für die rech­te Hand ent­wi­ckelt. Sie besteht aus einem Sili­kon­schaft und Fin­gern, Adap­ter­plat­te, Akkus und Sen­so­ren der Fir­ma Vin­cent Sys­tems. Für den Schaft haben wir den Stumpf gescannt, ein Modell über die Fir­ma Otto­bock frä­sen las­sen und dann bei uns im Haus den Schaft gefer­tigt. Wobei es meh­re­re Test­schäf­te waren, die wir im Haus, aber auch extern im Haus­halt des Pati­en­ten getes­tet haben. Am Daum­stumpf liegt eine FSR-Elek­tro­de an, über die der Pati­ent die Hand schließt. Auf dem Hand­rü­cken ist eine EMG-Elek­tro­de ange­bracht. Dar­über steu­ert der Pati­ent das Öff­nen der Hand. Vor­teil die­ser Vor­ge­hens­wei­se: Mit der fina­len Hand­pro­the­se kann der Pati­ent mit bei­den Hän­den zusam­men auch schwe­re­re Din­ge heben wie eine vol­le Fla­sche. Und falls an der lin­ken Hand eine wei­te­re Ope­ra­ti­on nötig wür­de, könn­te der Pati­ent auch allein mit der myo­elek­tri­schen Hand­pro­the­se rechts sei­nen All­tag selbst­stän­dig gestalten.

OT: Was heißt in die­sem Fall den All­tag selbst­stän­dig zu gestalten?

Häber­lin: Mit der rechts­hän­di­gen Pro­the­se soll­te der Pati­ent ein Glas grei­fen, sich anzie­hen oder Kör­per­hy­gie­ne betrei­ben – also alle für die Selbst­stän­dig­keit ele­men­ta­ren Hand­lun­gen durch­füh­ren kön­nen. Hin­zu kommt, dass der Pati­ent in sei­nen Beruf als Papier­tech­ni­ker zurück­keh­ren möch­te. Unser gemein­sa­mes Ziel ist es, dass er im Lau­fe des kom­men­den Som­mers wie­der die Maschi­nen im Betrieb bedie­nen kann. Das soll­te mit unse­rer Pro­the­se eben­falls mög­lich sein, falls sein Gesamt­zu­stand das zulässt.

OT: War­um nut­zen Sie die Pass­tei­le von Vin­cent Systems?

Häber­lin: Ich habe bis­her nur gute Erfah­run­gen mit den Pass­tei­len der Fir­ma und vor allem mit deren Ser­vice gemacht. Jeder­zeit kann ich dort anru­fen und um Unter­stüt­zung bit­ten. Oft­mals hat die Fir­ma Lösun­gen in pet­to, die im offi­zi­el­len Kata­log nicht oder noch nicht gelis­tet sind, und sie arbei­tet kon­ti­nu­ier­lich an der Ver­bes­se­rung ihrer Pro­duk­te. Grö­ße­re Unter­neh­men haben auf­grund ihrer Struk­tur oft kein so offe­nes Ohr für Einzelanliegen.

OT: An wel­chem Punkt zur Ziel­er­rei­chung ste­hen Sie gerade?

Häber­lin: Aktu­ell baue ich die myo­elek­tri­sche Pro­the­se für die rech­te Hand zusam­men. Dar­auf folgt eine letz­te Anpro­be. Wenn die gut läuft, alle Sen­so­rik funk­tio­niert und der Pati­ent mit der Pro­the­se bes­tens klar­kommt, fina­li­sie­re ich die Pro­the­se. Optik spielt dabei natür­lich auch eine gro­ße Rol­le. Hier hat­ten der Pati­ent und sei­ne Frau unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen. Sei­ne Frau hät­te eine Kos­me­tik in Haut­far­ben bevor­zugt. Am Ende hat sich der Pati­ent durch­ge­setzt. Er woll­te pas­send zu den schwar­zen Fin­gern einen schwar­zen Car­bon­schaft. Und den bekommt er auch. Wir ste­hen also kurz vor dem ent­schei­den­den Wen­de­punkt zu sei­ner Selbstständigkeit.

OT: Wie geht es weiter?

Häber­lin: Wenn sich der Pati­ent rund­um wohl­fühlt mit sei­ner Pro­the­se an der rech­ten Hand, bera­ten wir gemein­sam im Team mit den Ärzt:innen und Ergotherapeut:innen, ob eine Pro­the­se an der lin­ken Hand Sinn ergibt. Wie gesagt: An der lin­ken Sei­te hat der Pati­ent Rest­funk­tio­nen. Noch ist uns nicht klar, ob wir die­se mit einer Pro­the­se ver­bes­sern könn­ten. Mög­lich wäre etwa eine Eigen­kraft­pro­the­se mit Seil­zug. Viel­leicht wäre das mit einer wei­te­ren Ope­ra­ti­on ver­bun­den, was ange­sichts sei­ner Wund­hei­lungs­stö­rung nicht unkom­pli­ziert ist. Hier sind wir noch mit­ten in der Dis­kus­si­on mit der Fami­lie und dem Behandlungsteam.

OT: Apro­pos Dis­kus­si­on: Tau­schen Sie sich bei beson­de­ren Ver­sor­gungs­fäl­len mit Kolleg:innen aus?

Häber­lin: Sicher. Wenn ich mir bei einer Ver­sor­gung unsi­cher bin, rufe ich noch erfah­re­ne­re Kolleg:innen an, wie etwa Jochen Steil vom Sani­täts­haus Bril­lin­ger in Tübin­gen. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Kol­le­ge oder eine Kol­le­gin sich gewei­gert hät­te, mich an sei­nen oder ihren Erfah­run­gen teil­ha­ben zu las­sen. Im Gegen­teil: Wir sind alle sehr offen und auch eine klei­ne Com­mu­ni­ty. Denn nur weni­ge Häu­ser in Deutsch­land ver­sor­gen Men­schen mit Pro­the­sen der obe­ren Extre­mi­tä­ten auf hohem Niveau. Eine wei­te­re sehr gute Anlauf­stel­le für den Aus­tausch ist selbst­ver­ständ­lich der Ver­ein zur Qua­li­täts­si­che­rung in der Arm­pro­the­tik, in dem wir als Sani­täts­haus Pfän­der Mit­glied sind.

OT: Wie könn­te die Ver­sor­gung mit Pro­the­tik der obe­ren Extre­mi­tä­ten wei­ter ver­bes­sert werden?

Häber­lin: Die­se Medail­le hat zwei Sei­ten: Orthopädie­techniker:innen soll­ten sich auf den Bereich wirk­lich ein­las­sen, das stei­gert auf jeden Fall die Qua­li­tät der ein­zel­nen Ver­sor­gun­gen. Zum ande­ren fehlt es sicher an klei­ne­ren Grö­ßen von Fin­gern bzw. Hän­den von­sei­ten der Indus­trie. Als Tech­ni­ker ist mir aber bewusst, wie schwie­rig es ist, immer mehr Tech­nik in immer klei­ne­re Grö­ßen zu packen. Unterm Strich fin­de ich, dass es im Bereich der Pro­the­tik obe­rer Extre­mi­tä­ten in den ver­gan­ge­nen Jah­ren viel mehr Bewe­gung gab als in der Pro­the­tik der unte­ren Extremitäten.

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

 

Tei­len Sie die­sen Inhalt