Patho­mor­pho­lo­gie der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se — Arche­ty­pen der Rumpf­asym­me­trie und Korsettzweckformen

J. Matussek
Die Vertikalisierung des wachsenden Kindes stellt hohe Anforderungen an zentralnervöse Steuerungsmechanismen, um den Rumpf in allen Bewegungssituationen in der Symmetrie zu halten. Wie bei einer unrund schlagenden Pendelbewegung können konstante Abweichungen der Wirbelsäule aus der Symmetrie-Ebene des aufrechten Ganges, zumeist nach bestimmten Mustern, zum typischen Aspekt der Skoliose führen. Ein frühzeitiger Eingriff in diese Störung mit physiotherapeutischen, sportfördernden sowie derotierenden orthetischen Maßnahmen kann eine rasche Verkrümmungsprogredienz besonders in den Wachstumsphasen bremsen und umkehren.

Hier­zu ist es wich­tig, Sko­lio­sen durch eng­ma­schi­ge Kon­trol­len leit­li­ni­en­ge­recht zu iden­ti­fi­zie­ren. Kor­sett­tech­nisch kann die Spie­ge­lung der ver­scho­be­nen Kör­per­vo­lu­mi­na mit Zweck­for­men genau in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung der Sym­me­trie­ach­se einen güns­ti­gen Ein­fluss auf die Wachs­tums­dy­na­mik des Rump­fes haben. Klas­si­sche bild­ge­ben­de Maß­nah­men wie das Rönt­gen wer­den zuneh­mend durch Kör­per­ober­flä­chen­ver­mes­sung und die instru­men­tier­te Bewe­gungs­ana­ly­se ergänzt und ver­bes­sern das Ver­ständ­nis der dyna­mi­schen Prozesse.

Anzei­ge

Ein­lei­tung

Die­ser Bei­trag fasst auf der Basis der hete­ro­ge­nen Stu­di­en­la­ge und auf der empi­ri­schen Grund­la­ge der Erfah­rung einer gro­ßen Sko­lio­se­am­bu­lanz den Wis­sens­stand zur kon­ser­va­ti­ven Behand­lung der Sko­lio­se zusam­men. Trotz immer wie­der berich­te­ter Erfol­ge in der moder­nen kon­ser­va­ti­ven Sko­lio­se­the­ra­pie drückt sich in der welt­wei­ten medi­zi­ni­schen Lite­ra­tur ein Ruf nach kli­ni­scher Evi­denz im Rah­men gut defi­nier­ter Stu­di­en aus 1. Nach Ansicht des Autors kön­nen unter Berück­sich­ti­gung der sko­lio­ti­schen Arche­ty­pen 2 Effek­te der kon­ser­va­ti­ven The­ra­pie defi­niert wer­den, die sich jen­seits des Cobb-Win­kels dar­stel­len las­sen. Die Rol­le der kon­ser­va­ti­ven Behand­lung ist genau­er zu defi­nie­ren; evi­denz­ba­sier­te Stu­di­en ermög­li­chen dies in den aktu­el­len Ver­öf­fent­li­chun­gen von Wein­stein et al. 3 und Katz et al. 4. Das als inter­dis­zi­pli­när zu bezeich­nen­de Kon­zept der viel­fäl­ti­gen Behand­lungs­op­tio­nen lei­det unter vie­len nur wenig kon­trol­lier­ba­ren Ein­flüs­sen, bei­spiels­wei­se unter der unge­nau­en Beschrei­bung der initia­len Ver­krüm­mung der Wir­bel­säu­le, nicht flä­chen­de­ckend stan­dar­di­sier­ten Kor­sett­bau­wei­sen, feh­len­den Stan­dards der beglei­ten­den Phy­sio­the­ra­pie und man­geln­der Com­pli­ance des Pati­en­ten. Dies hat Ein­fluss auf den The­ra­pie­er­folg, wes­halb in Nach­un­ter­su­chun­gen meist nicht Glei­ches mit Glei­chem ver­gli­chen wer­den kann – mit dem Ergeb­nis der Ver­wäs­se­rung guter Behand­lungs­re­sul­ta­te mit sol­chen, die von Beginn an eine ungüns­ti­ge Pro­gno­se erwar­ten ließen.

Defi­ni­ti­on und Einteilung

Die idio­pa­thi­sche Sko­lio­se stellt patho­lo­gisch-ana­to­misch eine seit­li­che Dreh­ver­bie­gung der Wir­bel­säu­le dar, die je nach Loka­li­sa­ti­on als Rota­ti­ons­lor­do­se impo­niert 5 (Abb. 1). Bei ange­nom­men glei­cher Abwei­chung in der Fron­tal­ebe­ne ist die Wir­bel­kör­per­ro­ta­ti­on lum­bal stets grö­ßer als thorakal.

Funk­tio­nel­le Skoliose

Als funk­tio­nel­le Sko­lio­se wird eine fron­ta­le Wir­bel­säu­len­ver­krüm­mung be­zeichnet, bei der im Rönt­gen­bild kei­ner­lei Struk­tur- oder Form­ver­än­de­run­gen nach­weis­bar sind. Dar­un­ter fal­len z. B. ischia­di­sche Schmerzsko­lio­sen sowie sta­ti­sche Hal­tungs­sko­lio­sen durch Becken­asym­me­trie und ‑schief­stand. Cha­rak­te­ris­tisch für die funk­tio­nel­le Sko­lio­se ist die ein­fa­che Seit­ver­bie­gung der Wir­bel­säu­le ohne Rota­ti­ons­kom­po­nen­te der Wir­bel im Vorn­ei­ge­test. Die Medi­an­li­nie wird hier­bei im Gegen­satz zur struk­tu­rel­len Sko­lio­se nie­mals mehr­fach gekreuzt. Die funk­tio­nel­le Sko­lio­se ist rever­si­bel, soweit die zugrun­de lie­gen­de Stö­rung der Hal­tungs­asym­me­trie zu besei­ti­gen ist.

Eine Son­der­form der funk­tio­nel­len Sko­lio­se ist die Säug­lings­sko­lio­se. Die­se Form tritt im Alter von weni­gen Mona­ten auf und ist durch einen lang­ge­streck­ten, meist links­kon­ve­xen tho­ra­ko­lum­ba­len C‑förmigen Bogen gekenn­zeich­net. Eine Kor­re­la­ti­on mit dem habi­tu­el­len Lage-Schief­hals und dem Plagio­ce­pha­lus des Säug­lings ist häu­fig. Die Pro­gno­se die­ser Sko­lio­se­form ist gut, eine Spon­tan­hei­lung kann in fast allen Fäl­len erwar­tet wer­den 6.

Struk­tu­rel­le Skoliosen

Sie sind fixiert, nicht rever­si­bel und kön­nen weder aktiv noch pas­siv aus­rei­chend kor­ri­giert wer­den. Die kom­plet­te Fix­a­ti­on kann sich bei die­sem Sko­lio­se­typ erst in spä­te­ren pro­gres­si­ven Ver­schlim­me­rungs­pha­sen entwickeln.

Idio­pa­thi­sche, ätio­lo­gisch nicht defi­nier­ba­re Skoliose

Sie ist der am häu­figs­ten vor­kom­men­de Erkran­kungs­ty­pus 7 8. Nach den Lebens­ka­pi­teln wird sie wei­ter­hin unter­teilt in infan­ti­le Sko­lio­sen (0–3 Jah­re), juve­ni­le Sko­lio­sen (4–10 Jah­re) sowie die domi­nie­ren­den Ado­les­zen­ten­sko­lio­sen (ab dem 11. Lebens­jahr). Als pro­gnos­tisch vali­der haben sich die Kate­go­rien „frü­her Beginn“ („ear­ly onset“, < 7 Jah­re) und „spä­ter Beginn“ („late onset“, > 7 Jah­re) durch­ge­setzt 9.

Ande­re Sko­lio­se­for­men wie osteo­pa­thi­sche oder osteo­ge­ne, neu­ro­pa­thi­sche, myo­pa­thi­sche, fibro­pa­thi­sche und dege­ne­ra­ti­ve Sko­lio­sen wer­den nicht geson­dert bespro­chen, auch wenn sich die Behand­lungs­prin­zi­pi­en zuwei­len über­schnei­den können.

Vor­kom­men

Idio­pa­thi­sche Sko­lio­sen machen 90 % aller Sko­lio­sen im Wachs­tums­al­ter aus, wobei inner­halb die­ser Grup­pe die Ado­les­zen­ten­sko­lio­sen mit ca. 90 % am häu­figs­ten vor­kom­men. 9 % ent­fal­len auf die juve­ni­len und 1 % auf die infan­ti­len idio­pa­thi­schen Skoliosen.

Infan­ti­le Skoliose

Die infan­ti­le Sko­lio­se ist ein sel­te­ner Sko­lio­se­typ, der in 98 % der Fäl­le tho­ra­kal loka­li­siert ist. Die Pro­gno­se der infan­ti­len Sko­lio­se ist wegen der star­ken Pro­gre­di­enz trotz Kor­sett­be­hand­lung sehr schlecht.

Juve­ni­le Skoliose

Je frü­her die Sko­lio­se auf­tritt, des­to grö­ßer ist die Wachs­tums­re­ser­ve und des­to schlech­ter ist die Pro­gno­se. Neben der tho­ra­ka­len Loka­li­sa­ti­on kom­men auch lum­ba­le und S‑förmige Krüm­mun­gen bei die­ser Form der Sko­lio­se vor. Jun­gen und Mäd­chen sind bei der juve­ni­len und infan­ti­len Form der Sko­lio­se gleich häu­fig betroffen.

Ado­les­zen­ten­sko­lio­se

Bei der ado­les­zen­ten Form der Sko­lio­se sind haupt­säch­lich Mäd­chen betrof­fen. Typi­scher­wei­se sind die­se Sko­lio­sen in der Fron­tal­ebe­ne häu­fig rechts­kon­vex tho­ra­kal und/oder links­kon­vex lum­bal mit stets aus­ge­präg­ten Lor­do­sen kom­bi­niert (Rota­ti­ons­lor­do­se). Bei 16-jäh­ri­gen Mäd­chen beträgt die Inzi­denz 3 bis 4 % für Cobb-Win­kel > 10° und 0,5 % für Cobb-Win­kel > 20°. Das Ver­hält­nis weib­lich zu männ­lich vari­iert: Für klei­ne Kur­ven beträgt es 1:1, bei Kur­ven > 20° hin­ge­gen 4:1 und bei behand­lungs­be­dürf­ti­gen Kur­ven sogar 7:1.

Dia­gnos­ti­scher Ablauf

Ana­mne­se

Das zu erwar­ten­de Wachs­tum ist zusam­men mit dem Kno­chen­al­ter ein wich­ti­ger Para­me­ter für die Ent­schei­dung über die The­ra­pie. Der Zeit­punkt der Men­ar­che beim Mäd­chen weist dar­auf hin, dass das Wachs­tum sich etwas ver­lang­samt und etwa 2 bis 2,5 Jah­re nach der ers­ten Regel­blu­tung sis­tie­ren wird.

Kli­ni­sche Untersuchung

Zur Unter­su­chung der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se gehört die Lot­be­stim­mung der Wir­bel­säu­le und die Beur­tei­lung der Sym­me­trie der Schul­tern und des Beckens sowie der Vorn­ei­ge­test nach Adams (Abb. 2a u. 2b.) mit Beur­tei­lung des Rip­pen­wuls­tes oder des Len­den­wuls­tes. Die Höhen­ver­än­de­rung die­ser Vor­wöl­bung im Vorn­ei­ge­test kann mit einem Höhen­mess­ge­rät, einem sog. Sko­lio­me­ter nach Göt­ze oder einem Win­kel­mes­ser nach Pedriol­le im Lang­zeit­ver­lauf zur Pro­gre­di­enz­be­stim­mung gemes­sen wer­den und bie­tet eine hin­rei­chen­de Kor­re­la­ti­on zwi­schen Wir­bel­ro­ta­ti­on und Cobb-Win­kel. Mit dem Mess­ge­rät wird bei maxi­ma­ler Inkli­na­ti­on der Wir­bel­säu­le der am stärks­ten aus­ge­bil­de­te Rip­pen­wulst und/oder Len­den­wulst ausgemessen.

Bild­ge­ben­de Verfahren

Opti­sche Dar­stel­lung der Rückenoberfläche

Die opti­sche Dar­stel­lung und Ver­mes­sung der Rücken­ober­flä­che zur Ver­laufs­do­ku­men­ta­ti­on bei Sko­lio­sen kann durch neue­re Gerä­te wie das Video­ras­ter­ste­reo­me­trie-For­me­tric-Sys­tem 10 durch­ge­führt wer­den, wobei Licht­strei­fen auf die Rücken­ober­flä­che pro­ji­ziert wer­den (Abb. 1). Die Kor­re­la­ti­on des hier­durch errech­ne­ten Sko­lio­se­win­kels mit dem im Rönt­gen­bild gemes­se­nen Cobb-Win­kel hat einen Feh­ler von 5 bis 7 % 11. Die für die Pro­gno­se rele­van­te Ober­flä­chen­ro­ta­ti­on im Schei­tel­wir­bel­be­reich zeigt eine gute Kor­re­la­ti­on zwi­schen Wir­bel­kör­per­ro­ta­ti­on und Kör­per­ober­flä­che mit einem Mess­feh­ler von 3 % 12. Pri­mär eig­net sich die­ses Ver­fah­ren zur Regis­trie­rung von Ver­än­de­run­gen der Form der Wir­bel­säu­le im Ver­lauf einer Behand­lung beim sel­ben Patienten.

Radio­lo­gi­sche Dia­gnos­tik (Leit­li­ni­en DGOU 13)

Rönt­gen­un­ter­su­chung und Ver­gleichs­auf­nah­men sind einer­seits zur Beur­tei­lung der Pro­gre­di­enz, ande­rer­seits zur Pla­nung sowie zur Beur­tei­lung des Erfolgs kon­ser­va­ti­ver Behand­lungs­maß­nah­men uner­läss­lich. Zur genau­es­ten Beur­tei­lung der Gesamt­hal­tung der Wir­bel­säu­le ist Fol­gen­des erfor­der­lich: Die Darm­bein­käm­me müs­sen initi­al am unte­ren Rand der Auf­nah­me mit­ein­be­zo­gen wer­den, um dort die Ske­lett­rei­fe beur­tei­len zu kön­nen 14. Je nach Ossi­fi­ka­ti­ons­zu­stand der Darm­bein­kamm­apo­phy­se, die von late­ral nach medi­al fort­schrei­tet, wer­den 5 Sta­di­en unterschieden.

Ben­ding-Auf­nah­men

Bei Aus­gangs­krüm­mungs­wer­ten im Graub ereich der Kor­sett­in­di­ka­ti­on (40°– 50° Cobb-Win­kel) sol­len A.-p.-Aufnahmen in maxi­ma­ler Late­ral­fle­xi­on nach links und rechts im Lie­gen durch­ge­führt wer­den. Wäh­rend die kom­pen­sa­to­ri­sche Gegen­krüm­mung bei Late­ral­fle­xi­on aus­ge­gli­chen wird, bleibt die Pri­mär­krüm­mung bestehen. Soll­ten im kon­ven­tio­nel­len Rönt­gen­bild Fra­gen unge­klärt blei­ben, kön­nen spe­zi­el­le Dar­stel­lun­gen mit CT oder MRT ange­schlos­sen werden.

Bei der Sko­lio­se­mes­sung nach Cobb wird im Rönt­gen­bild p. a. eine Linie durch die am stärks­ten gegen­ein­an­der ver­kipp­ten Deck- und Grund­plat­ten gezo­gen. Die­se bei­den Wir­bel­kör­per wer­den als Neu­tral­wir­bel bezeich­net (Abb. 2c). Der sich dar­aus erge­ben­de Kom­ple­men­tär­win­kel an den Schnitt­punk­ten bei­der Ver­län­ge­rungs­li­ni­en von Deck- und Grund­plat­ten wird ver­mes­sen. Der Schei­tel­wir­bel zeigt mög­li­cher­wei­se die stärks­te Keil­form und trans­ver­sa­le Rota­ti­on im Schei­tel­punkt der Krümmung.

Radio­lo­gi­sche Klassifikationen

Wenn­gleich die Len­ke-Klas­si­fi­ka­ti­on ins­be­son­de­re zur Beur­tei­lung der Aus­deh­nung von Kor­rek­tur-Spon­dy­lo­de­sen weit ver­brei­tet ist 15 (Abb. 3 oben), ist die Sicht­wei­se aus ortho­pä­die­tech­ni­scher Per­spek­ti­ve für den Kor­sett­bau ver­ein­facht. Hier fin­den die ver­ein­fach­ten Schroth- und Rigo-Chê­neau-Klas­si­fi­ka­tio­nen 16 17 18 19 (Abb. 3 unten) auf der Grund­la­ge der ursprüng­li­chen 5 King-Typen 20 Anwendung.

For­ma­le Arche­ty­pen sko­lio­ti­scher Ver­bie­gun­gen nach Rigo-Chêneau

A. Zwei 3‑bogige Typen mit mehr oder weni­ger aus­ge­dehn­ten rechts­kon­vex tho­ra­ka­len Schwün­gen (Abb. 4, 5). Die­se ent­spre­chen kor­sett­tech­nisch den Typen King III (V) und King IV bzw. den Len­ke-Typen I a–c (Abb. 3).

B. Zwei soge­nann­te 4‑bogige Typen (Abb. 4, 5), deren Haupt­cha­rak­te­ris­ti­ka in der links­kon­ve­xen lum­ba­len Krüm­mung mit jeweils weni­ger (King I) oder mehr (King II) aus­ge­präg­ten tho­ra­kal rechts­kon­ve­xen Gegen­schwün­gen bestehen (Abb. 5).

C. Im Gegen­satz dazu fin­den sich die soge­nann­ten Non-3-/4‑­bo­gi­gen Sko­lio­sen (Abb. 3 C1/C2), bei denen sich das Becken weit­ge­hend neu­tral verhält.

Die soge­nann­ten 4‑bogigen Sko­lio­sen unter­tei­len sich nach Rigo-Chê­neau in die ech­ten (Abb. 3, Typ B1) und die „lum­ba­len“ 4‑bogigen Sko­lio­sen (Abb. 3, Typ E1/E2). Bei­de For­men ähneln sich bezüg­lich der Becken­aus­rich­tung, wobei das Becken zur Kon­ka­vi­tät des links­lum­ba­len Schwun­ges aus­lenkt, dabei rechts nach vor­ne kippt („lor­do­siert“) und gleich­zei­tig höher steht als der lin­ke Becken­kamm. Das Hüft­ge­lenk führt hier­bei eine typi­sche Innen­ro­ta­ti­ons­be­we­gung mit Ver­än­de­run­gen des Gang­bil­des rechts nach innen­ro­tiert aus. Im Gegen­satz dazu fin­den sich die soge­nann­ten Non-3-/4‑­bo­gi­gen Sko­lio­sen (Abb. 3, Typ C1/C2), bei denen sich das Becken weit­ge­hend neu­tral ver­hält. Sko­lio­sen mit weder 3- noch 4‑bogigem Cha­rak­ter wer­den am Becken neu­tral gefasst (Abb. 6).

Die soge­nann­ten rechts­tho­ra­ka­len 3‑bogigen Sko­lio­sen schwin­gen im Becken­be­reich genau gegen­sin­nig zu den 4‑bogigen Sko­lio­sen: Das Becken bewegt sich zur Kon­ka­vi­tät der tho­ra­ka­len Ver­krüm­mung, in die­sem Fal­le nach links, und lor­do­siert mit dem lin­ken Becken­kamm, wel­cher nach cra­ni­al wan­dert (Abb. 3, Typ A1–A3, und Abb. 5).

Ins­ge­samt ist bei die­ser Rigo-Chê­neau-Klas­si­fi­ka­ti­on die Lage des Neu­tral­wir­bels (TP = „tur­ning point“) im Ver­hält­nis zur Lot­li­nie vom Os sacrum (CSL= „cen­tral sacral line“) zu definieren:

  • Bei den ech­ten 4‑bogigen und den lum­ba­len 4‑bogigen Sko­lio­sen ist der TP im A.-p.-Röntgenbild auf der Sei­te der CSL der links­lum­ba­len Ver­krüm­mung posi­tio­niert, wäh­rend er bei den 3‑bogigen auf der Sei­te der CSL der rechts­tho­ra­ka­len Ver­krüm­mung steht (Abb. 3, Typ A1–C2).
  • Bei den „unde­fi­nier­ten“ Non-3-/4‑­bo­gi­gen Sko­lio­sen wie­der­um steht der TP-Wir­bel auf der Lotlinie/CSL. Unter­schied­lich sind die­se Grup­pen bezüg­lich der Fas­sung des Beckens im Kor­sett und der Gestal­tung des tho­ra­ka­len 3‑Punkt-Druck­sys­tems mit sei­nen Expan­si­ons­räu­men (Abb. 7).

Die Berück­sich­ti­gung der sagit­ta­len Balan­ce im Kor­sett fin­det sich im seit­lich-ste­hen­den Rönt­gen­bild wie­der: Die Klas­si­fi­ka­ti­on nach Len­ke (Abb. 3) trägt der spi­no­pel­vi­nen und der tho­ra­ka­len sagit­ta­len Aus­rich­tung Rech­nung. Sie muss in einem kypho­sie­ren­den Impuls tho­ra­kal und in einem auf­rich­ten­den ent­lor­do­sie­ren­den Effekt lum­bal beim Kor­sett­bau berück­sich­tigt werden.

Wirk­prin­zi­pi­en der nach Chê­neau modi­fi­zier­ten Korsette

Tho­rax

Sko­lio­ti­sche Krüm­mun­gen betref­fen alle drei Raum­ebe­nen und kön­nen nach dem 3‑Punkt-Prin­zip durch Exten­si­on, Dero­ta­ti­on und Umkrüm­mung zunächst pas­siv kor­ri­giert wer­den 21. Kot­wi­cki und Chê­neau 22 23 sowie Rigo und Weiss 24 schlu­gen ein Sys­tem des Kor­sett­auf­baus vor, in dem eine geschick­te Druck­flä­chen­an­ord­nung meh­re­re 3‑Punk­te-Sys­te­me auf die ver­schie­de­nen Krüm­mungs­ebe­nen ein­wir­ken lässt (Abb. 7). Expan­si­ons­räu­me im Kor­sett sor­gen dafür, dass die zu ver­schie­ben­den asym­me­tri­schen Kör­per­vo­lu­mi­na des Sko­lio­se-Rump­fes eben­dort­hin aus­wei­chen kön­nen und Platz fin­den. Die akti­ve Kor­rek­tur fin­det durch die Sti­mu­la­ti­on der Pro­prio­zep­ti­on statt: Die rhyth­mi­schen Expan­si­ons­be­we­gun­gen des Tho­rax, der Rip­pen und des Abdo­mens wäh­rend des Atmens gegen die Pelot­tie­run­gen bewir­ken die akti­ve Auf­rich­tung. Hier­bei atmet sich der Pati­ent über die Tho­rax­ex­pan­si­on in vor­ge­ge­be­ne Kor­sett­frei­räu­me (Abb. 7). Eine Kor­sett-Pelot­te sowie der kor­re­spon­die­ren­de Frei­raum kön­nen je nach Plat­zie­rung gegen­über der Krüm­mung iso­lier­te oder kom­bi­nier­te dero­tie­ren­de, exten­die­ren­de oder auch umkrüm­men­de Effek­te haben. Die Evo­lu­ti­on des Chê­neau-Kor­set­tes („Rigo Sys­tem Chê­neau“, „RSC“ 25, Weiß’ „Che­neau light“, Regniers „CCtec Can­Fit CAD-Sys­tem-Che­neau“ u. a.) strebt heu­te die kom­plet­te „Spie­ge­lung“ der sko­lio­ti­schen Kör­per­vo­lu­mi­na im Raum an 26, um in den kor­sett­frei­en Zei­ten schritt­wei­se ein Zurück­schwin­gen des Rump­fes in eine idea­le Sym­me­trie zu ermöglichen.

Becken und LWS

Im Becken­be­reich wird bei den links­lum­ba­len und 4‑bogigen Sko­lio­sen (Abb. 5) die Ver­schie­bung des Beckens von rechts nach links unter­halb der dero­tier­ten LWS ange­strebt. Das Becken muss dem­entspre­chend gleich­zei­tig rechts kau­da­li­siert (oder die Kon­kav­sei­te rechts lum­bal exten­diert) wer­den, um par­al­lel dazu aus der rechts­sei­ti­gen Kip­pung nach ven­tral wie­der ent­lor­do­siert zu wer­den. Die­se kom­ple­xe Dero­ta­ti­on soll beson­ders beim Gehen der Pati­en­tin zum Tra­gen kom­men (Abb. 5): Im Becken­korb des Kor­setts wird die rechts­sei­ti­ge Becken­hälf­te wie in einer Zwin­ge gefasst und ent­lor­do­siert sowie nach links gedrängt. Die lin­ke Hälf­te des Becken­kor­bes kann ent­we­der ganz feh­len oder hat genü­gend Expan­si­ons­raum, sodass in der links­sei­ti­gen Schwung­bein­pha­se das Becken frei gegen­sin­nig zur links­lum­ba­len Krüm­mung schwin­gen kann. Wäh­rend der rechts­sei­ti­gen Schwung­bein­pha­se hin­ge­gen kann die patho­lo­gi­sche Aus­len­kung des Beckens gemäß der lum­ba­len Ver­krüm­mung nun nicht statt­fin­den. Eine gegen­sin­ni­ge exzen­tri­sche Pen­del­be­we­gung ver­hin­dert die wei­te­re Aus­prä­gung der Ver­krüm­mung (Abb. 5, Kor­sett-Typen 1 u. 2).

Hilf­reich bei die­ser Vor­stel­lung ist, sich das Becken als unters­ten „Wir­bel“ der lum­ba­len Ver­krüm­mung zu den­ken: Das Becken kippt nach ven­tral auf der Kon­kav­sei­te, was der Rota­ti­on der Wir­bel­kör­per­quer­fort­sät­ze nach ven­tral entspricht.

Bei den 3‑bogigen Sko­lio­sen ver­hält sich das Becken genau gegen­sin­nig im Ver­gleich mit den 4‑bogigen bzw. den lum­ba­len 4‑bogigen Sko­lio­sen. Die Mecha­nis­men der Kor­sett­kor­rek­tur müs­sen nun genau spie­gel­bild­lich ange­wen­det wer­den (Abb. 5, Kor­sett-Typen 3 u. 4).

Leit­li­ni­en der The­ra­pie 27

  • Kor­sett­pflich­tig­keit: Cobb-Win­kel von lum­bal 15– 30° und von tho­ra­kal 20–50° Cobb. Rei­ne Nacht­kor­set­te sind für rasch pro­gre­di­en­te, gering­gra­di­ge, fle­xi­ble Ver­krüm­mun­gen (< 20° Cobb) bei juve­ni­len und ado­les­zen­ten Sko­lio­sen im Rah­men eines eng­ma­schi­gen Scree­nings sinnvoll.
  • Kor­rek­ter The­ra­pie­ver­lauf: Pri­mär­kor­rek­tur des Sko­lio­se­win­kels im Kor­sett von > 40 %, noch aus­rei­chen­des Kör­per­wachs­tums bei Beginn der Kor­sett-The­ra­pie, gute Tra­ge­com­pli­ance des Kor­setts (min­des­tens 16– 18 Std. Tragezeit/24 Std.) 28.

Bei den infan­ti­len Sko­lio­sen haben sich Lage­rungs­scha­len und Teil­zeit­kor­set­te bis zur Abschät­zung der Kur­ven­pro­gres­si­on bewährt. Ein wachs­tums­len­ken­des sinn­vol­les ope­ra­ti­ves Ein­grei­fen been­det hier früh­zei­tig kon­ser­va­ti­ve Bemühungen.

Bei Ver­krüm­mun­gen > 50° tho­ra­ka­ler und > 30° lum­ba­ler Cobb-Win­kel bleibt ein nach­hal­ti­ger Erfolg der kon­ser­va­ti­ven The­ra­pie frag­lich. Eine Kor­sett­ver­sor­gung jun­ger Pati­en­ten kann hier eine Pro­gre­di­enz ver­hin­dern hel­fen, bis zu einer end­gül­ti­gen Ent­schei­dung zur Ope­ra­ti­on nach Wachstumsabschluss.

Zie­le kon­ser­va­ti­ver Therapie

Zie­le der The­ra­pie sind die Ver­hin­de­rung oder Ver­rin­ge­rung der Pro­gres­si­on, die Kor­rek­tur der bestehen­den Krüm­mung sowie das Hal­ten der erreich­ten Kor­rek­tur 29. Der The­ra­pie­er­folg hängt aller­dings von vie­len Fak­to­ren ab und bedarf eines inter­dis­zi­pli­nä­ren Ansat­zes. Die nicht in allen Fäl­len stan­dar­di­sier­te Kor­sett­bau­wei­se kann durch den Ein­satz eines com­pu­ter­ge­stütz­ten CAD-Sys­tems (z. B. Can­Fit, Fa. Regnier) ver­bes­sert werden.

Die spe­zi­fi­sche phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Behand­lung unter Anlei­tung (z.  B.  Schroth-The­ra­pie u.  a. 1- bis 2‑mal/-Woche) und ins­be­son­de­re die eigen­stän­di­ge Übungs­aus­füh­rung (täg­lich) kom­men der Behand­lungs-Com­pli­ance des Pati­en­ten und sei­ner Fami­lie zugu­te. Der posi­ti­ve Effekt sta­tio­nä­rer Inten­siv-Reha­bi­li­ta­ti­ons­maß­nah­men (SIR) (1 × 3 Wochen/Jahr) wird eben­falls beschrie­ben 30 31.

Dis­kus­si­on

Für die meist jun­gen Pati­en­tin­nen steht nicht der von den Ärz­ten gemes­se­ne Cobb-Win­kel im Vor­der­grund, son­dern die Becken­sym­me­trie („Hüf­te steht her­aus“) und kos­me­ti­sche Aspek­te des Rückens („Der Buckel muss weg“) (Abb. 2). Ein kos­me­tisch gutes Ergeb­nis (Abb. 8) ent­schä­digt für eine jah­re­lan­ge Ver­sor­gung mit einem Korsett.

Kri­ti­ker der Kor­sett­ver­sor­gung äußern, dass sich der meist pri­mär gut kor­ri­gie­ren­de Effekt in Fron­tal- und Rota­ti­ons­pro­fil Jah­re nach der Abtrai­nie­rung aus dem Kor­sett ver­flüch­ti­ge. In einer Stu­die des Autoren­teams Matus­sek, Oczip­ka, Dul­li­en et al. 32 wur­de die Ober­flä­chen­op­to­me­trie (For­me­tric-Sys­tem) des Rückens als bild­ge­ben­des Ver­fah­ren neben der 3‑D-Gang­ana­ly­se und den kon­ven­tio­nel­len bild­ge­ben­den Ver­fah­ren zur Unter­su­chung der akti­ven Wir­bel­säu­len­kor­rek­tur im Rah­men der Kor­sett-The­ra­pie ange­wen­det. Sieb­zehn ado­les­zen­te Pati­en­tin­nen mit typi­schen rechts­tho­ra­ka­len 3‑bogigen Sko­lio­sen (Len­ke 1 a–c) und 28 Pati­en­tin­nen mit typi­schen links­lum­ba­len „4‑bogigen“ Sko­lio­sen konn­ten über einen Zeit­raum von min­des­tens 24 Mona­ten ein­ge­schlos­sen werden.

Die Gang­ana­ly­se führt in den kon­trol­lier­ten 9 Fäl­len zu spe­zi­fi­schen zusätz­li­chen Erkennt­nis­sen zu spi­no­pel­vi­nen Bewe­gungs­stö­run­gen in Bezug zu Becken­stel­lung und Bein­dre­hung im Gang­bild 33. Zusam­men­fas­send kann fest­ge­hal­ten wer­den, dass die Hal­tungs- und Rota­ti­ons­kor­rek­tur nicht sofort mit den radio­lo­gi­schen Wer­ten im Kor­sett kor­re­lier­te, son­dern einen Nach­lauf von ca. 6 Mona­ten hat­te. So waren 12 Mona­te kon­se­quen­te Kor­sett- und Phy­sio­the­ra­pie nach Schroth not­wen­dig, um eine akti­ve Dero­ta­ti­ons­kor­rek­tur von > 50 % zu errei­chen. Zwei Jah­re nach Abtrai­nie­rung aus der Orthe­se hat­ten sich die­se Kor­rek­tur­wer­te nicht signi­fi­kant ver­schlech­tert 34. Dies kor­re­liert mit den Stu­di­en von Wein­stein 35 und Katz 36.

Der Autor:
Dr. med. Jan Matussek
Sek­ti­ons­lei­tung Kin­der­or­tho­pä­die und Wirbelsäulenchirurgie
Ortho­pä­di­sche Kli­nik für die Uni­ver­si­tät Regensburg
Askle­pi­os Kli­ni­kum Bad Abbach
Kaiser-Karl‑V.-Allee 3
93077 Bad Abbach
j.matussek@asklepios.com

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

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