Wich­ti­ge Säu­len im osseo­in­te­gra­ti­ven Versorgungskonzept

Am BG Klinikum Bergmannstrost Halle wurde im April 2018 der erste Patient osseointegrativ versorgt. Dr. med. Horst H. Aschoff, Leiter der Sektion Endo-Exo-Prothetik der Unfallchirurgischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover, unterstützte bei der Einführung des Verfahrens.

Über die inzwi­schen gesam­mel­ten Erfah­run­gen mit der Osseo­in­te­gra­ti­on berich­tet Patrick Schrö­ter, Fach­arzt an der Kli­nik für Unfall- und Wie­der­her­stel­lungs­chir­ur­gie des Hal­le­schen BG Klinikums.

OT: Wie vie­le Ver­sor­gun­gen haben Sie seit 2018 am BG Kli­ni­kum Berg­manns­trost Hal­le durchgeführt?

Patrick Schrö­ter: Wir haben 16 osseo­in­te­gra­tiv ver­sorg­te Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten behan­delt. Davon wur­den elf bei uns in der Kli­nik durch alle Schrit­te die­ses Ver­fah­rens geführt, die ande­ren wur­den zunächst an ande­ren Kran­ken­häu­sern behan­delt. 95 Pro­zent hat­ten zuvor Pro­ble­me mit ihrer schaft­ge­führ­ten Ver­sor­gung. Außer­dem betreu­en wir Kriegs­op­fer, unter ande­rem aus Afgha­ni­stan. Die­se wur­den teils nicht fach­män­nisch ampu­tiert, des­halb ist kei­ne schaft­ge­führ­te Ver­sor­gung mög­lich. Bei einem die­ser Pati­en­ten war kei­ne sinn­haf­te ope­ra­ti­ve Stumpf­re­kon­struk­ti­on mög­lich, sodass eine Osseo­in­te­gra­ti­on durch­ge­führt wurde.

OT: Wel­ches Ver­fah­ren ver­wen­den Sie?

Schrö­ter: Alle Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten wur­den mit den von Dr. Hans Grund­ei ent­wi­ckel­ten ESKA-Implan­ta­ten ver­sorgt. Wir arbei­ten aus­schließ­lich mit einem zwei­stu­fi­gen Vor­ge­hen (two step) – also zwei Ope­ra­tio­nen: Bei der ers­ten set­zen wir den Metall­stiel (Endo­pro­the­se) ein, und bei der zwei­ten wird die Aus­tritts­stel­le am Stumpf, das Sto­ma, ange­legt. Wir wer­den auch dabei blei­ben, weil vie­le Pati­en­ten für eine One-Step-Lösung mit allen Schrit­ten in nur einer Ope­ra­ti­on nicht infra­ge kom­men. Oft liegt die Ampu­ta­ti­on schon lan­ge Zeit zurück, vier bis fünf Jah­re wur­de kei­ne Pro­the­se getra­gen, häu­fig ist die Kno­chen­sta­bi­li­tät pro­ble­ma­tisch. Nor­ma­ler­wei­se ver­ge­hen bei uns sechs Wochen zwi­schen den bei­den OP-Steps. Ist aber die Kno­chen­fes­tig­keit zu gering, kön­nen es bis zu drei Mona­te werden.

OT: Wie erfolgt die Vorbereitung?

Schrö­ter: Bevor wir ope­rie­ren, fin­den drei Ter­mi­ne statt, zwei davon ambu­lant im inter­dis­zi­pli­nä­ren Team, einer sta­tio­när. Bei letz­te­rem erfol­gen neben einer umfang­rei­chen Dia­gnos­tik zur Bewer­tung even­tu­el­ler Neben­er­kran­kun­gen auch Funk­ti­ons­tests. Die­se wer­den nach sechs, dann nach zwölf Mona­ten und anschlie­ßend jähr­lich wie­der­holt, um den Behand­lungs­er­folg mit getra­ge­ner Pro­the­se zu bewer­ten. Min­des­tens drei Jah­re möch­ten wir den Ver­lauf beobachten.

OT: Wel­che Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten pro­fi­tie­ren am meis­ten von der Osseointegration? 

Schrö­ter: Über die Hälf­te der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten, die bei uns osseo­in­te­gra­tiv ver­sorgt wer­den, sind über 60 Jah­re alt. Die Älte­ren pro­fi­tie­ren beson­ders von die­ser Art der Ver­sor­gung, weil sie auf­grund ihrer Bin­de­ge­webs­struk­tur oft Schwie­rig­kei­ten mit einem Schaft­sys­tem haben, den Schaft nicht anle­gen und füh­ren kön­nen. Nach der osseo­in­te­gra­ti­ven Ver­sor­gung tra­gen sie ihre Pro­the­se viel öfter, die Haut­ir­ri­ta­tio­nen sind weg und sie kön­nen bes­ser auf­tre­ten. Unser ältes­ter Pati­ent ist knapp über 70 Jah­re alt. Aus­schluss­kri­te­ri­en lie­gen nicht im Alter, son­dern in den Nebenerkrankungen.

OT: Leh­nen Sie auch Behand­lun­gen ab?

Schrö­ter: Wenn eine Grund­er­kran­kung wie Dia­be­tes zur Ampu­ta­ti­on geführt hat, wür­de ich eine osseo­in­te­gra­ti­ve Ver­sor­gung aus­schlie­ßen. Gefäß­er­kran­kun­gen sind kein gene­rel­les Aus­schluss­kri­te­ri­um, hier muss man den Pati­en­ten genau betrach­ten und Ein­zel­ent­schei­dun­gen tref­fen. So hat einer unse­rer Pati­en­ten durch einen Gefäß­ver­schluss sein Bein ver­lo­ren, ohne dass eine gene­ra­li­sier­te Gefäß­er­kran­kung vor­lag. Die Ver­sor­gung mit einer kno­chen­ge­führ­ten Pro­the­se hat gut funk­tio­niert. Letzt­lich füh­ren manch­mal Neben­er­kran­kun­gen – die zum Teil erst wäh­rend des sta­tio­nä­ren Vor­un­ter­su­chungs­ter­mins gefun­den wer­den – zum Aus­schluss der Ver­sor­gungs­mög­lich­keit. Dane­ben sind die per­sön­li­chen Zie­le der Betrof­fe­nen wich­tig: Was erwar­ten sie von der Ver­sor­gung? Wer zum Bei­spiel mit sei­ner schaft­ge­führ­ten Pro­the­se bes­tens klar­kommt, sie ganz­tags nutzt, sich damit sport­lich betä­tigt und kaum Haut­ir­ri­ta­tio­nen hat, dem bie­ten wir das Ver­fah­ren der Osseo­in­te­gra­ti­on nicht an, da auch die­ses ein Risi­ko birgt.

OT: In wel­chen Stu­fen fin­det das Aus­schluss­ver­fah­ren statt?

Schrö­ter: Ent­spre­chend unse­res Vor­ge­hens der drei­fa­chen Vor­stel­lung ergibt sich etwa fol­gen­des Bild: In der ers­ten ambu­lan­ten Sprech­stun­de zeigt sich bei zehn und 20 Pro­zent der Inter­es­sen­tin­nen und Inter­es­sen­ten, dass Osseo­in­te­gra­ti­on nicht mög­lich ist – auf­grund von Vor­er­kran­kun­gen, lau­fen­der Che­mo­the­ra­pien oder medi­ka­men­tö­ser Behand­lung, manch­mal auch auf­grund der Gesamt­sta­tur und des Gewichts. Auch fal­sche Vor­stel­lun­gen des Ver­fah­rens kön­nen in die­sem Bera­tungs­ge­spräch aus­ge­räumt wer­den. Zeigt sich bei der zwei­ten ambu­lan­ten Vor­stel­lung eine gute All­tags­nut­zung der schaft­ge­führ­ten Pro­the­se mit gerin­gen Pro­ble­men, emp­feh­len wir eben­falls, auf die Osseo­in­te­gra­ti­on zu ver­zich­ten. Nach der sta­tio­nä­ren Vor­un­ter­su­chung muss­ten wir erst bei einem Pati­en­ten ableh­nend entscheiden.

OT: Füh­ren Sie Stu­di­en zum Behand­lungs­er­folg durch?

Schrö­ter: Bun­des­weit, so schätzt Dr. Asch­off, gibt es ver­mut­lich 250 bis 300 not­wen­di­ge osseo­in­te­gra­ti­ve Ver­sor­gun­gen pro Jahr. Durch­ge­führt wer­den an ver­schie­de­nen Kran­ken­häu­sern etwa 50–70. Eine bun­des­wei­te Koope­ra­ti­on ist nötig, um eine flä­chen­de­cken­de zufrie­den­stel­len­de Ver­sor­gung sowohl ope­ra­tiv, als auch ortho­pä­die­tech­nisch zu eta­blie­ren. Wir haben hier­zu eine Arbeits­grup­pe inner­halb der Ver­ei­ni­gung Tech­ni­sche Ortho­pä­die e.V. (VTO) gegrün­det, um Behand­lungs­er­geb­nis­se zen­tral zu erfas­sen und so aus­sa­ge­kräf­ti­ge Zah­len zum Erfolg der­ar­ti­ger Ver­sor­gun­gen zu errei­chen (d. Red.: Die VTO ist eine Sek­ti­on der Deut­schen Gesell­schaft für Ortho­pä­die und Ortho­pä­di­sche Chir­ur­gie e.V. DGOOC und der Deut­schen Gesell­schaft für Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie e.V DGOU). Wenn ein umfang­rei­che­rer Daten­be­stand vor­liegt als bis­her, kön­nen wir noch mehr zum Out­co­me der Osseo­in­te­gra­ti­on sagen. Hilf­reich wäre zudem eine Daten­bank aller Zen­tren, die eine sol­che Behand­lung anbie­ten, sowie der Ortho­pä­die­tech­nik-Werk­stät­ten bzw. Sani­täts­häu­ser und Phy­sio­the­ra­peu­ten, die sich dar­auf spe­zia­li­siert haben.

OT: Wie oft kommt es bei den von Ihnen behan­del­ten Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zu Pro­ble­men wie Entzündungen?

Schrö­ter: Sel­ten. Ober­fläch­li­che Sto­ma­in­fek­tio­nen gab es bei zwei Pati­en­ten, wovon nur einer bei uns ope­riert wor­den war. Die­se waren mit Anti­bio­ti­ka gut beherrsch­bar. Bei zwei Pati­en­ten gab es eine ver­stärk­te Nar­ben­bil­dung, sodass wir die Nar­ben ein­kür­zen muss­ten. Wich­tig ist, den Haut­ka­nal sehr kurz anzu­le­gen. Wir haben da sehr viel von Dr. Asch­off gelernt.

OT: Wie wich­tig ist der inter­dis­zi­pli­nä­re Ansatz bei der Osseo­in­te­gra­ti­on und wel­che Rol­le spielt dabei die Orthopädie-Technik?

Schrö­ter: Inter­dis­zi­pli­nä­re Arbeit ist extrem wich­tig. In den Vor­ge­sprä­chen bei uns in der Kli­nik ist der Ortho­pä­die-Tech­ni­ker direkt invol­viert, wir arbei­ten mit drei ortho­pä­die­tech­ni­schen Fir­men zusam­men. Die drit­te wesent­li­che Säu­le ist die Phy­sio­the­ra­pie. Der Groß­teil, der in unse­rer Kli­nik in Hal­le behan­del­ten Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten ist über die Berufs­ge­nos­sen­schaf­ten bzw. Unfall­kas­sen ver­si­chert. Des­halb dür­fen wir sie bei uns reha­bi­li­tie­ren. Zwi­schen den OP-Schrit­ten wer­den sie sowohl ortho­pä­die-tech­nisch als auch phy­sio­the­ra­peu­tisch betreut. Nach der letz­ten Ope­ra­ti­on kön­nen die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in der Regel nach etwa fünf Tagen ste­hen – noch ohne vol­le Belas­tung – und der Ortho­pä­die-Tech­ni­ker nimmt ers­te Anpas­sun­gen am Pro­the­sen­auf­bau vor. Danach sind sie bei ambu­lan­ter Phy­sio­the­ra­pie für zwei bis drei Mona­te mit Geh­stüt­zen zuhau­se, der sta­ti­sche Auf­bau der Expro­the­se wird fina­li­siert. Dann folgt die vier­wö­chi­ge sta­tio­nä­re Reha­bi­li­ta­ti­on bei uns, bei der eben­falls ein Pro­the­sen­an­wen­dungs­trai­ning erfolgt. Dies ist enorm wich­tig und wird oft ver­nach­läs­sigt. Sind die Pati­en­ten nicht BG-ver­si­chert, ver­su­chen wir zu Bei­spiel in Bad Klos­ter­laus­nitz eine Reha­maß­nah­me für sie zu organisieren.

OT: Gibt es ansons­ten Pro­ble­me mit der Rehabilitation?

Schrö­ter: Auch gro­ße gesetz­li­che Kran­ken­kas­sen wie die AOK haben ein gutes Sys­tem mit Außen­dienst­lern, die Ortho­pä­die-Tech­ni­ker sind, und Ver­trä­ge mit spe­zia­li­sier­ten Reha-Ein­rich­tun­gen. Je klei­ner die Kas­se ist und je weni­ger Ampu­ta­ti­ons­fäl­le sie betreut, des­to gerin­ger die Erfah­run­gen – und dann wer­den Men­schen mit Ampu­ta­tio­nen bei­spiels­wei­se in Reha­ein­rich­tun­gen geschickt, die auf die Reha­bi­li­ta­ti­on nach dem Ein­satz künst­li­cher Knie­ge­len­ke aus­ge­rich­tet sind. Dort kön­nen sie nicht sach­ge­recht behan­delt werden.

OT: Wel­che beson­de­re Her­aus­for­de­rung liegt für Ortho­pä­die-Tech­ni­ker in der Osseointegration?

Schrö­ter: Grund­sätz­lich kann jeder Ortho­pä­die-Tech­ni­ker sich in die­ser Rich­tung qua­li­fi­zie­ren, der eine Ober­schen­kel­pro­the­se auf­bau­en kann. Eine ent­spre­chen­de Schu­lung sei­tens der Her­stel­ler lie­fert das nöti­ge Rüst­zeug. Aller­dings lohnt sich die Anfangs­in­ves­ti­ti­on nur bei einer Min­dest­an­zahl von Ver­sor­gun­gen – in etwa zehn pro Jahr. Des­halb ist es hilf­reich, in der Nähe eines ope­ra­ti­ven Zen­trums ange­sie­delt zu sein, das die Ope­ra­tio­nen zum Ein­set­zen des Implan­tats durch­führt. Die Bereit­schaft zur inten­si­ven inter­dis­zi­pli­nä­ren Zusam­men­ar­beit ist unabdingbar.

OT: Wel­che Rol­le wird die Osseo­in­te­gra­ti­on bei der Ver­sor­gung nach Ampu­ta­tio­nen künf­tig spielen?

Schrö­ter: Sie wird einen wich­ti­gen Teil­aspekt im Markt dar­stel­len, der vie­len Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten eine bes­se­re Ver­sor­gung ermög­licht. Die Zahl der osseo­in­te­gra­ti­ven Ver­sor­gun­gen wird zuneh­men, sie wer­den die schaft­ge­führ­ten aber nicht erset­zen. Nach Ampu­ta­tio­nen auf­grund eines Unfalls oder nach einer Tumor­er­kran­kung ist die Osseo­in­te­gra­ti­on eine reiz­vol­le Alter­na­ti­ve und wird viel­leicht künf­tig die Haupt­ver­sor­gungs­va­ri­an­te darstellen.

Das Inter­view führ­te Cath­rin Günzel.

OTWorld.connect
Patrick Schrö­ter wird im Kon­gress der OTWorld.connect den Vor­trag “Pro­ble­me in der Ver­sor­gung trans­ti­bia­ler Stümp­fe aus Sicht des Chir­ur­gen” am Diens­tag, 27. Okto­ber (13 — 14 Uhr / Kanal 2) hal­ten. Am Mitt­woch, 28. Okto­ber, spricht er zudem zu dem The­ma: “Geplan­te Extre­mi­tä­ten-Ampu­ta­tio­nen in der Ortho­pä­die” ( 9 — 10 Uhr / Kanal 3).
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