Orga­ni­sa­ti­on von Sitz­un­ter­stüt­zung – neue Ideen mit mehr Bewegung

U. Bächli
Die Organisation einer adäquaten Sitzunterstützung ist eine große Herausforderung. Oft scheitert sie daran, dass die Wichtigkeit von Haltungsvariationen zu wenig berücksichtigt wird, was für auf Unterstützung angewiesene Menschen unerträglich werden kann. Doch wenn für die einzelnen Körperabschnitte eine sinnvolle Ausgangsstellung ermittelt und der Umfang der zugelassenen Abweichung von der Ausgangsstellung definiert wird, und wenn, sofern notwendig, die in die Ausgangsstellung zurückführende Kraft aufgezeigt wird, ist es möglich, eine technische Lösung für eine Sitzunterstützung zu entwickeln, die zuverlässig Stabilität und Bewegungsspielraum gleichermaßen vermittelt.

Ein­lei­tung

Seit vie­len Jah­ren berät der Autor als Ergo­the­ra­peut — Men­schen mit pos­tu­ra­len, vor allem neu­ro­mus­ku­lär beding­ten Pro­ble­men im Zusam­men­hang mit der Orga­ni­sa­ti­on von Sitz­un­ter­stüt­zung. Die Bera­tun­gen fin­den bis zu ihrem Abschluss gemein­sam mit dem invol­vier­ten Team von Fach- und Bezugs­per­so­nen vor Ort statt. In den meis­ten Fäl­len wer­den die — Men­schen mit ihren Sitz­un­ter­stüt­zun­gen in ver­schie­de­nen Ent­wick­lungs- und Lebens­pha­sen lang­fris­tig betreut. Das erlaubt einen Über­blick dar­über, wel­che Kon­zept­ideen sich über einen län­ge­ren Zeit­raum bewährt haben und wel­che über­ar­bei­tet wer­den sollten.

Anzei­ge

Im zeit­li­chen Ver­lauf las­sen sich zwei Ten­den­zen beob­ach­ten: Auf der einen Sei­te gibt es mar­kan­te Ent­wick­lun­gen in der Dia­gnos­tik, in der Behand­lung durch kon­ser­va­ti­ve, medi­ka­men­tö­se sowie ope­ra­ti­ve The­ra­pie und in der Unter­stüt­zung durch Ortho­pä­die- und Reha-Tech­nik. Auf der ande­ren Sei­te blei­ben eta­blier­te Vor­stel­lun­gen und Gewohn­hei­ten hart­nä­ckig bestehen. Im Bereich der Sitz­un­ter­stüt­zung sind dies Vor­stel­lun­gen einer sta­ti­schen, nicht oder nur mini­mal beweg­ten Sitz­hal­tung. Weit ver­brei­tet scheint auch die Annah­me zu sein, dass die Ursa­che eines Pro­blems am Ort sei­ner Mani­fes­ta­ti­on bear­bei­tet wer­den müs­se. Dar­über hin­aus wer­den zudem oft tech­ni­sche Lösun­gen ange­strebt, bevor eine sorg­fäl­ti­ge Ana­ly­se der Pro­ble­me vorliegt

Plä­doy­er für mehr Bewe­gung in der Sitzunterstützung

Bei der inten­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung mit Men­schen mit schwe­ren Hal­tungs­pro­ble­men ist das Hin­ein­ver­set­zen in die Lage des Betrof­fe­nen immens wich­tig. Durch Aus­pro­bie­ren ver­schie­de­ner Sitz­un­ter­stüt­zun­gen über meh­re­re Stun­den kann die jewei­li­ge Wir­kung über die Zeit bes­ser erlebt wer­den. Aus die­ser Erfah­rung her­aus plä­diert der Autor dafür, die Per­spek­ti­ve der Men­schen ein­zu­neh­men, die auf Sitz­un­ter­stüt­zun­gen ange­wie­sen, jedoch zumin­dest teil­wei­se nicht in der Lage sind, ihre Emp­fin­dun­gen und Bedürf­nis­se sprach­lich auszudrücken.

Bewe­gung spielt beim Sit­zen auf zwei­er­lei Wei­se eine wich­ti­ge Rol­le: Zum einen wer­den wäh­rend des Sit­zens – zumeist unbe­wusst – stän­dig klei­ne Hal­tungs­kor­rek­tu­ren vor­ge­nom­men, um das kör­per­li­che Wohl­be­fin­den sicher­zu­stel­len und unan­ge­neh­men Emp­fin­dun­gen aus­zu­wei­chen. Zum ande­ren wer­den durch Bewe­gung beim Sit­zen emo­tio­na­le Regun­gen aus­ge­drückt. Mit­tels der will­kür­li­chen Hal­tungs­an­pas­sun­gen tre­ten Men­schen ent­spre­chend ihren Inten­tio­nen mit der Umwelt in Bezie­hung. Sitz­un­ter­stüt­zun­gen soll­ten des­halb dabei unter­stüt­zen, die dazu erfor­der­li­chen Funk­tio­nen und Bewe­gun­gen ver­füg­bar zu machen. In die­sem Zusam­men­hang sind fol­gen­de Aspek­te wichtig:

  • Men­schen, die auf­grund eines Han­di­caps auf Sitz­un­ter­stüt­zung ange­wie­sen sind, möch­ten ihre Hal­tung für ein bes­se­res Wohl­be­fin­den vari­ie­ren und sich ent­spre­chend ihren Inten­tio­nen und den dafür benö­tig­ten Funk­tio­nen organisieren.
  • Men­schen, die auf­grund von Mus­kel­schwä­che oder aus­ge­präg­ter Hypo­to­nie über einen sehr schwa­chen Hal­tungs­hin­ter­grund ver­fü­gen, möch­ten in ihrer Hal­tung so unter­stützt wer­den, dass sie mit der ver­blei­ben­den Kraft die für sie wesent­li­chen Funk­tio­nen aus­füh­ren können.
  • Men­schen, die irrever­si­ble Kon­trak­tu­ren haben, möch­ten den ver­blei­ben­den Bewe­gungs­um­fang ent­spre­chend ihren Inten­tio­nen aus­nut­zen können.
  • Men­schen, die unter star­ker Spas­tik lei­den, sind dank­bar, wenn ihre spas­ti­schen Kör­per­ab­schnit­te nicht auf rigi­de Wei­se zurück­ge­bun­den wer­den, weil sie sich sonst in einen erschöp­fen­den und schmerz­haf­ten Kampf gegen die rigi­de Begren­zung bege­ben müssen.
  • Men­schen, die unter einer aus­ge­präg­ten Dys­ki­ne­sie lei­den, sind dank­bar, wenn ihre Extre­mi­tä­ten nicht zurück­ge­bun­den wer­den und wenn ihre Sta­bi­li­tät so orga­ni­siert wird, dass sie ihre Extre­mi­tä­ten ent­spre­chend ihren Inten­tio­nen und Emp­fin­dun­gen bewe­gen können.
  • Men­schen, die an einer aus­ge­präg­ten neu­ro­ge­nen sko­lio­ti­schen Fehl­hal­tung lei­den, sind froh, wenn die Sitz­un­ter­stüt­zung nicht nur von der Vor­stel­lung der Sym­me­trie gelei­tet ist, son­dern sinn­vol­le Prio­ri­tä­ten zuguns­ten der Lebens­qua­li­tät gesetzt wer­den und der Sym­me­trie­ge­dan­ke sorg­fäl­tig dosiert umge­setzt wird.
  • Men­schen, bei denen schwe­re Fehl­hal­tun­gen und Fehl­stel­lun­gen bestehen, sind auf eine groß­flä­chig wir­ken­de Sitz­un­ter­stüt­zung ange­wie­sen. Umso wich­ti­ger ist es für sie, wenn die groß­flä­chig wir­ken­de Unter­stüt­zung Hal­tungs­va­ria­ti­on auch über meh­re­re Kör­per­ab­schnit­te hin­weg zulässt und ein akzep­ta­bles Mikro­kli­ma ermöglicht.

Men­schen also, die ein ihre Sitz­hal­tung betref­fen­des Han­di­cap haben und auf Sitz­un­ter­stüt­zung ange­wie­sen sind, wün­schen sich eine Unter­stüt­zung, die den not­wen­di­gen Halt ver­mit­telt, ohne durch die rigi­de Anwen­dung sta­ti­scher Vor­stel­lun­gen des Kör­pers in ihrer Hal­tungs­va­ria­ti­on bzw. ihren inten­tio­na­len Bewe­gun­gen blo­ckiert zu wer­den. Der Ein­satz sta­ti­scher Ele­men­te bei der Sitz­un­ter­stüt­zung ist zwar not­wen­dig, um die mög­li­che Mobi­li­tät wir­kungs­voll umset­zen zu kön­nen, aber es soll­te eine anspruchs­vol­le Balan­ce zwi­schen Sta­tik und Bewe­gung gewähr­leis­tet sein. Dies kann nur mit einem sys­te­ma­ti­schen Vor­ge­hen in offe­ner inter­pro­fes­sio­nel­ler Zusam­men­ar­beit gelingen.

Vom Kon­zept zur Umsetzung

Die fol­gen­de zeit­li­che und logi­sche Struk­tu­rie­rung der Ent­wick­lung einer adäqua­ten Sitz­un­ter­stüt­zung hat sich in der Pra­xis bewährt. Sie führt nach den Erfah­run­gen des Autors zu wenig Miss­ver­ständ­nis­sen und Feh­lern sowie zu lang­fris­tig befrie­di­gen­den Lösun­gen. Die Ent­wick­lung eines geeig­ne­ten Kon­zepts zur Sitz­un­ter­stüt­zung umfasst fol­gen­de Phasen:

Team­bil­dung

  • Klä­rung, wel­cher Per­so­nen­kreis in die Ent­wick­lung der Sitz­un­ter­stüt­zung ein­be­zo­gen wer­den soll
  • Klä­rung der Rollen
  • grund­sätz­li­che Fest­le­gung des Vorgehens

Abklä­rung

  • Hal­tung und Bewe­gungs­ver­hal­ten verstehen
  • Res­sour­cen, Ein­schrän­kun­gen und Bedürf­nis­se aufnehmen
  • Zie­le definieren
  • bei Ziel­kon­flik­ten sinn­vol­le Prio­ri­tä­ten aushandeln

Kon­zept­ent­wick­lung

  • sinn­vol­le Aus­gangs­stel­lung für die ein­zel­nen Kör­per­ab­schnit­te definieren
  • erwünsch­te bzw. zuge­las­se­ne Abwei­chung ein­zel­ner Kör­per­ab­schnit­te von der Aus­gangs­stel­lung in Bezug auf Rich­tung und Aus­maß definieren
  • falls not­wen­dig, rück­füh­ren­de Kraft defi­nie­ren, die aus der abwei­chen­den Stel­lung eines Kör­per­ab­schnitts wie­der in die sinn­vol­le Aus­gangs­stel­lung zurückhilft
  • geeig­ne­te tech­ni­sche Umset­zung ermit­teln, die die genann­ten Anfor­de­run­gen erfül­len kann
  • schrift­li­che Dar­le­gung und Begrün­dung des Kon­zepts zur Über­prü­fung durch die rele­van­ten Per­so­nen und Ent­schei­dungs­trä­ger; falls not­wen­dig, Kor­rek­tu­ren; danach ist das Kon­zept verbindlich

Tech­ni­sche Umset­zung und Erprobung

  • Umset­zung in Etap­pen: zunächst die Fix­punk­te des Kon­zepts, spä­ter die abhän­gi­gen Variablen
  • Über­prü­fung der ein­zel­nen Etap­pen auf Wirksamkeit

Fall­bei­spie­le erfolg­reich umge­setz­ter Konzeptideen

Die nach­fol­gen­den Bei­spie­le wur­den in den letz­ten Jah­ren ent­wi­ckelt und umge­setzt. Erfolg­rei­che Kon­zep­te wer­den lau­fend wei­ter­ent­wi­ckelt und verfeinert.

1. Fall­bei­spiel: ven­tra­le dyna­mi­sche Rumpfunterstützung

Pro­blem­be­schrei­bung

Ein Jun­ge mit bila­te­ra­ler spas­ti­scher Zere­bral­pa­re­se und schwa­chem Hal­tungs­hin­ter­grund hing ohne Unter­stüt­zung mit sei­nem Rumpf nach vor­ne oder nach einer Sei­te. Die­se Ten­denz war einer­seits bedingt durch sei­ne Hal­tungs­schwä­che, ande­rer­seits durch eine Ver­hal­tens­ge­wohn­heit. Mit der ungüns­ti­gen Rumpf­hal­tung war eine ent­spre­chend ungüns­ti­ge Kopf­hal­tung ver­bun­den (Abb. 1). Rigi­de Fixie­run­gen des Rumpfs wie star­re seit­li­che Rumpf­un­ter­stüt­zungs­pe­lot­ten oder straff gespann­te 4‑Punkt-Fixie­run­gen (Rumpf­wes­te) lehn­te der Jun­ge ab, oder er kämpf­te bis zu deren Zer­stö­rung dage­gen an (Sei­ten­pe­lot­ten). Zudem blieb die Kopf­hal­tung mit HWS-Fle­xi­on und HWS-Trans­la­ti­on nach ante­rior unbe­frie­di­gend. Fle­xi­ble­re Unter­stüt­zun­gen wie elas­ti­sche Gur­te unter­stütz­ten den Pati­en­ten zu wenig – die Kopf­hal­tung blieb immer unbe­frie­di­gend (Abb. 2).

Kon­zept­idee

Bei der inter­pro­fes­sio­nel­len Abklä­rung konn­te das Ver­sor­gungs­team durch Ein­satz der Hän­de beob­ach­ten, dass eine dyna­mi­sche ven­tra­le Rumpf­un­ter­stüt­zung eine posi­ti­ve Wir­kung zei­gen könn­te, wenn sie fol­gen­de Bedin­gun­gen erfüllt: Die defi­nier­te gewünsch­te Aus­gangs­stel­lung soll im Sin­ne der Hal­tungs­va­ria­ti­on und der Hal­tungs­in­ten­ti­on in einem defi­nier­ten Umfang ver­las­sen wer­den kön­nen; dabei soll die ven­tra­le Unter­stüt­zung bei Abwei­chung von der defi­nier­ten Aus­gangs­stel­lung eine rück­füh­ren­de Kraft aus­üben (je grö­ßer die Abwei­chung, des­to grö­ßer die rück­füh­ren­de Kraft) und den Jun­gen bei der Wie­der­erlan­gung und Erhal­tung der defi­nier­ten Aus­gangs­stel­lung unter­stüt­zen. Die auf­rich­ten­de Kraft der ven­tra­len Unter­stüt­zung soll bei auf­ge­rich­te­ter Rumpf­hal­tung wenig Druck aus­üben, eine leich­te Late­ral­fle­xi­on zulas­sen und die Rumpfro­ta­ti­on mög­lichst wenig ein­schrän­ken. Der Kopf soll auf dem gut auf­ge­rich­te­ten obe­ren Rumpf­ab­schnitt gut aus­ba­lan­ciert mit gerin­ger Anstren­gung gehal­ten und ohne wei­te­re Kopf­un­ter­stüt­zung im Raum frei bewegt wer­den kön­nen (Abb. 3).

Umset­zung und Wirkung

Tech­ni­sche Umset­zung des Kon­zepts: Auf eine vor­ne an der Sitz­flä­che auf­steck­ba­re Abduk­ti­ons­füh­rung kann eine Car­bon­fe­der von vor­ne in ein Füh­rungs­pro­fil auf­ge­scho­ben und in der pas­sen­den Posi­ti­on arre­tiert wer­den. Auf Höhe des Brust­beins ist eine den Rumpf seit­lich umgrei­fen­de kor­sett­ar­ti­ge Unter­stüt­zungs­form ange­bracht, die in der Höhe und even­tu­ell in der seit­li­chen Aus­len­kung ein­ge­stellt wer­den kann.

Die tech­ni­sche Umset­zung hielt die Vor­ga­ben des Kon­zepts ein: Nach nur weni­gen Kor­rek­tu­ren konn­te die Unter­stüt­zung im All­tag ein­ge­setzt wer­den. Die Kopf­hal­tung muss­te nicht zusätz­lich unter­stützt wer­den. Auf­rich­tung und Sym­me­trie des Rumpfs gelan­gen auch ohne Unter­stüt­zungs­flä­chen für Ell­bo­gen und Unter­ar­me. Der ein­fa­che und prak­ti­sche Trans­fer konn­te tech­nisch gut gelöst wer­den. Die Kon­zept­idee und ihre tech­ni­sche Umset­zung bewäh­ren sich seit meh­re­ren Jah­ren und konn­ten in der Zwi­schen­zeit auch bei ande­ren Kin­dern und Jugend­li­chen erfolg­reich ange­wandt wer­den (Abb. 4)

Aktu­ell bekommt der Jun­ge erneut Pro­ble­me mit der Kopf­auf­rich­tung; der Kopf hängt wie­der­um nach vor­ne. Bei der erneu­ten Abklä­rung zeigt sich, dass zwar die grund­le­gen­de Kon­zept­idee bei­be­hal­ten wer­den kann, aber mit einer leich­ten Sitz­kan­te­lung (Nei­gung der gesam­ten Sitz­ein­heit) der Kopf von der Schwer­kraft­ein­wir­kung ent­las­tet wer­den muss. Auf die­se Wei­se kann der Jun­ge mit auf­ge­rich­te­tem Kopf ent­spannt an der Kopf­stüt­ze anlehnen.

2. Fall­bei­spiel: Prio­ri­tät Schul­ter vor Becken durch beweg­li­ches Becken

Pro­blem­be­schrei­bung

Ein Jun­ge mit star­ker Spas­tik, epi­lep­ti­schen Krampf­an­fäl­len und wei­te­ren kom­ple­xen Pro­ble­men zeig­te unter dem Ein­fluss der Spas­tik unter ande­rem eine aus­ge­präg­te Ten­denz zur Ver­kür­zung einer Rumpf­sei­te. Mit­tels Sitz­bet­tung, Becken­gur­ten und seit­li­chen Rumpf­un­ter­stüt­zungs­flä­chen (Pelot­ten) soll­te der Rumpf ent­ge­gen der Spas­tik in Auf­rich­tung und Sym­me­trie gehal­ten wer­den. Der Jun­ge kämpf­te andau­ernd und bis zur Erschöp­fung gegen die­se Unterstützungsmaßnahmen.

Nach dem Ein­satz einer Baclo­fen-Pum­pe konn­te eine deut­li­che Reduk­ti­on der Spas­tik beob­ach­tet wer­den; eine zeit­wei­se ein­schie­ßen­de Spas­tik blieb aber bestehen und mani­fes­tier­te sich in der tem­po­rä­ren Ver­kür­zung einer Rumpf­sei­te, die zunächst als Hal­tungs­schwä­che miss­deu­tet wur­de. Die Spas­tik war der­art stark, dass die seit­li­che Rumpf­pe­lot­te über­wun­den wur­de und der Jun­ge in eine zur Sei­te flek­tier­te Posi­ti­on geriet, aus der er sich selbst nicht mehr befrei­en konn­te. Die rigi­den Maß­nah­men zur Erhal­tung der Sym­me­trie pro­vo­zier­ten wei­ter­hin einen erschöp­fen­den Kampf des Jun­gen gegen die Unter­stüt­zungs­maß­nah­men­und erhöh­ten beob­acht­bar Fre­quenz, Inten­si­tät und Dau­er der Ereig­nis­se mit ein­schie­ßen­der Spas­tik. Der Jun­ge hielt es in der Sitz­un­ter­stüt­zung schließ­lich nur noch kur­ze Zeit aus, ent­wi­ckel­te Angst vor ihr und wehr­te sich gegen den Trans­fer. Ein voll­stän­di­ger Ver­zicht auf die seit­li­chen Unter­stüt­zungs­flä­chen war nicht mög­lich, da der Jun­ge auf die­se Wei­se in eine nicht ver­tret­ba­re Rumpf­hal­tung gekippt wäre, aus der er sich nicht selbst hät­te befrei­en kön­nen. Die Sitz­un­ter­stüt­zung konn­te dem­nach in die­ser Form nicht mehr ein­ge­setzt wer­den (Abb. 5).

Kon­zept­idee

Bei der Bera­tung stell­te sich fol­gen­de Fra­ge: Kann die Sitz­un­ter­stüt­zung im Roll­stuhl so orga­ni­siert wer­den, dass der obe­re Rumpf­ab­schnitt auf­ge­rich­tet und in der Sym­me­trie gehal­ten wer­den kann und dass bei ein­schie­ßen­der Spas­tik die Ver­kür­zung einer Rumpf­sei­te zuge­las­sen wer­den kann, ohne Auf­rich­tung und Sym­me­trie des obe­ren Rumpf­ab­schnitts auf­ge­ben zu müs­sen? Auf die­se Wei­se wür­de dem obe­ren Rumpf­ab­schnitt und der Schul­ter Prio­ri­tät gegen­über dem Becken eingeräumt.

Die Aus­gangs­stel­lung des Beckens soll defi­niert und gesi­chert wer­den, es soll sich aber im Zusam­men­hang mit der Ver­kür­zung einer Rumpf­sei­te in einer phy­sio­lo­gisch rich­ti­gen Wei­se aus der defi­nier­ten Aus­gangs­stel­lung bewe­gen las­sen und danach mit Unter­stüt­zung einer rück­füh­ren­den Kraft wie­der in die Aus­gangs­stel­lung zurück­ge­bracht wer­den. Die Sym­me­trie des obe­ren Rumpf­ab­schnitts soll durch seit­li­che Unter­stüt­zungs­flä­chen gesi­chert wer­den. Die Bewe­gungs­mög­lich­keit des Beckens soll so gestal­tet wer­den, dass der obe­re Rumpf­ab­schnitt in auf­ge­rich­te­ter Posi­ti­on ver­blei­ben kann (Abb. 6).

Umset­zung und Wirkung

Tech­ni­sche Umset­zung: Die bestehen­de Sitz­form wur­de auf ihrer Unter­sei­te zu einer abge­run­de­ten, leicht glei­ten­den Flä­che umge­baut, die schwim­mend auf einer pas­send geform­ten Flä­che mit wenig Haft­rei­bung liegt, die ihrer­seits auf dem Roll­stuhl­rah­men fixiert ist. Die schwim­men­de Sitz­form wird durch elas­ti­sche Bän­der in Posi­ti­on gehal­ten, Kraft­rich­tung und Kraft­stär­ke der elas­ti­schen Bän­der kön­nen ein­ge­stellt wer­den. Die unmit­tel­ba­re Wir­kung des Kon­zepts ist ein­drucks­voll: Der Jun­ge kann wie­der län­ge­re Zeit in der Sitz­un­ter­stüt­zung sit­zen, ist ent­spannt und hat die Angst vor der Sitz­un­ter­stüt­zung ver­lo­ren. Die ein­schie­ßen­de Spas­tik tritt deut­lich sel­te­ner auf und ist in ihrer Inten­si­tät geringer.

Die Mög­lich­keit zu haben, mit dem Becken seit­lich zuguns­ten der Ver­kür­zung einer Rumpf­sei­te aus­zu­wei­chen, scheint den Jun­gen zu beru­hi­gen und führt dazu, dass die Aus­weich- und Rück­füh­rungs­funk­ti­on der Sitz­un­ter­stüt­zung nur in sehr gerin­gem Umfang bean­sprucht wird und sie letzt­lich deut­lich weni­ger leis­ten muss als ange­nom­men. Auch die­se Kon­zept­idee hat sich über den Zeit­raum meh­re­rer Jah­re bewährt.

3. Fall­bei­spiel: Siche­rung der Aus­gangs­stel­lung des Beckens

Pro­blem­be­schrei­bung

Oft haben Men­schen mit einer Schwä­che der Rumpf­hal­tung gleich­zei­tig eine aus­ge­präg­te Exten­si­ons­spas­tik: Die Hüft­stre­ckung führt dazu, dass sich das Becken nach Abklin­gen der Spas­tik in einer Posi­ti­on wei­ter vor­ne befin­det und nach dor­sal kippt. Trotz des Ein­sat­zes eines gut pas­sen­den und in ande­ren Fäl­len gut wirk­sa­men Becken­gurts konn­te das Vor­rut­schen des Beckens des Jugend­li­chen im dar­ge­stell­ten Bei­spiel nicht ver­hin­dert wer­den. Er zeig­te eine stark kypho­sier­te Rumpf­hal­tung und einen hän­gen­den Kopf bei nicht unter­stütz­ter Becken­kip­pung nach hin­ten. Bei unter­stützt auf­ge­rich­te­tem Becken war dage­gen eine adäqua­te Rump­fund Kopf­hal­tung mög­lich. Alle Ver­su­che, die Aus­gangs­stel­lung des Beckens mit Becken­gur­ten und Becken­span­gen über die spas­ti­schen Pha­sen hin­weg zu erhal­ten, schei­ter­ten. Spreiz­ho­sen führ­ten zu Gefühls­ver­lust im Bereich der inne­ren Ober­schen­kel und der Geni­ta­li­en und wur­den nicht akzep­tiert (Abb. 7).

Kon­zept­idee

Bei der Bera­tung stell­te sich fol­gen­de Fra­ge: Gibt es eine Mög­lich­keit, die Aus­gangs­stel­lung des Beckens zu sichern, die bei einer Strecks­pas­tik die Hüft­stre­ckung in defi­nier­tem Umfang zulässt und danach das Becken wie­der in die sinn­vol­le Aus­gangs­stel­lung zurück­führt? Außer­dem sol­len die Bei­ne wei­ter­hin indi­vi­du­ell bewegt wer­den kön­nen (vor allem Hüft­fle­xi­on, Abduk­ti­on, Adduk­ti­on, Knie­ex­ten­si­on und ‑fle­xi­on). Die Kon­zept­idee: Die Unter­stüt­zungs­flä­che für die Ober­schen­kel soll zwei­ge­teilt wer­den und so beweg­lich sein, dass die Hüft­ge­len­ke im Sin­ne von Abduk­ti­on, Adduk­ti­on und Fle­xi­on weit­ge­hend frei beweg­lich blei­ben. Die Unter­stüt­zungs­flä­chen sol­len im Bereich der Knie­beu­ge ca. 90° gebo­gen und ca. zwei Drit­tel ent­lang der Waden geführt wer­den. Die Ver­län­ge­rung über die Waden ermög­licht es, die Bei­ne über die vor­de­ren Ober­schen­kel bzw. die obe­ren Unter­schen­kel mit Bän­dern so zu sichern, dass das Becken bei jeg­li­cher Bewe­gung der Bei­ne in der Aus­gangs­stel­lung ver­bleibt oder nach Hüf­tex­ten­si­on wie­der in die defi­nier­te Aus­gangs­stel­lung zurück­glei­tet. Hüf­tex­ten­si­on wird ermög­licht durch den Ver­zicht auf enge Becken­gur­te oder ‑span­gen. Der Gurt über das Becken erfüllt allein den Zweck eines Sicher­heits­gurts, begrenzt das Aus­maß der Stre­ckung und ver­hin­dert dadurch die Ver­la­ge­rung des Schwer­punkts zu weit nach vor­ne (Abb. 8).

Umset­zung und Wirkung

Bei der tech­ni­schen Umset­zung han­delt es sich bereits um die wei­ter­ent­wi­ckel­te drit­te Ver­si­on die­ser Kon­zept­idee zur Siche­rung der Aus­gangs­stel­lung des Beckens. Die Mon­ta­ge der Unter­stüt­zungs­flä­chen für die bei­den Bei­ne erfolgt als Dreh­ge­lenk mit der ver­ti­ka­len Rota­ti­ons­ach­se mög­lichst genau unter­halb des jewei­li­gen Hüft­ge­lenks. Die Dreh­ge­len­ke der bei­den Unter­stüt­zungs­flä­chen ermög­li­chen dem Hüft­ge­lenk Abduk­ti­on und Adduk­ti­on; die Mate­ri­al­be­schaf­fen­heit der Unter­stüt­zungs­flä­chen (im Bei­spiel Poly­pro­py­len-Plat­ten mit 6 mm Stär­ke) ermög­li­chen dem Hüft­ge­lenk Fle­xi­on, Innen- und Außen­ro­ta­ti­on, dem Knie­ge­lenk Fle­xi­on und Exten­si­on. Die Pols­te­rung wird direkt auf die indi­vi­du­ell beweg­li­chen Unter­stüt­zungs­plat­ten auf­ge­bracht (Abb. 9). Die­ser Lösungs­an­satz ist mitt­ler­wei­le bei unter­schied­li­chen Her­aus­for­de­run­gen im Zusam­men­hang mit der Siche­rung der Aus­gangs­stel­lung des Beckens erfolg­reich im Einsatz.

4. Fall­bei­spiel: Kopf­un­ter­stüt­zung bei sehr schwa­cher Kopfkontrolle

Pro­blem­be­schrei­bung

Ein Mäd­chen mit außer­or­dent­lich schwa­chem Hal­tungs­hin­ter­grund infol­ge einer aus­ge­präg­ten gene­rel­len Hypo­to­nie kann nur mit star­ker Nei­gung der gesam­ten Sitz­ein­heit recht pas­siv gela­gert wer­den. Durch seit­li­che Unter­stüt­zung und 4‑Punkt-Gurt kann der Rumpf auch bei mehr Auf­rich­tung zwar gehal­ten wer­den, der Kopf fällt dann aber unkon­trol­liert nach vor­ne und kann selbst­stän­dig nicht auf­ge­rich­tet wer­den. Der Ein­satz einer Hals­krau­se schei­det aus, weil sie die Beweg­lich­keit des Kopfs zu stark ein­schränkt und vom Mäd­chen abge­lehnt wird. Der Ein­satz einer seit­lich und fron­tal unter­stüt­zen­den Kopf­stüt­ze mit Refe­renz­punkt Roll­stuhl­rah­men schei­det eben­falls aus, weil dadurch die Bewe­gung des Kopfs ein­ge­schränkt wird und die HWS zu Extension/Translation nach ante­rior ten­diert (Abb. 10).

Kon­zept­idee

Das Kon­zept besteht in einer rela­tiv dyna­mi­schen Stüt­zung des Kop­fes mit auf der Schul­ter auf­ge­leg­ter Unter­stüt­zung Die unter­stüt­zen­de Form stützt den Kopf ent­lang der Linie late­ra­les Os occi­pi­ta­le – late­ra­les Os tem­po­ra­le – late­ra­le Man­di­bu­la, ohne die Beweg­lich­keit des Kie­fer­ge­lenks zu beein­träch­ti­gen. Dor­sal wird die Unter­stüt­zungs­form mit der Kopf­stüt­ze (even­tu­ell elas­tisch) ver­bun­den, ven­tral mit gekreuz­ter Ver­bin­dung zu den Sicher­heits- oder Becken­gur­ten. Durch „Auf­klap­pen“ der Unter­stüt­zung gelingt auch das An- und Aus­zie­hen der Unter­stüt­zung ein­fach und zuver­läs­sig (Abb. 11).

Umset­zung und Wirkung

Die Unter­stüt­zungs­form ist aus Plas­ta­zo­te geformt und im Nacken­be­reich mit einer star­ren Metall­leis­te, in den Schen­keln mit form­ba­rem Alu­mi­ni­um­blech ver­stärkt. Die Alu­mi­ni­um­schen­kel sind mit der Metall­leis­te per Gelenk ver­bun­den, damit die Unter­stüt­zungs­form für den Trans­fer aus­ein­an­der­ge­klappt wer­den kann. An der Metall­leis­te im Nacken­be­reich und an den Schen­kel­en­den sind Gurt­bän­der ange­bracht, die die rich­ti­ge Posi­ti­on und Wir­kung der Unter­stüt­zungs­form sicher­stel­len sol­len. Da die­se Kopf­un­ter­stüt­zung auf der Schul­ter auf­liegt und ihre Posi­ti­on durch die Ver­bin­dung zur Kopf­stüt­ze und gekreuzt zu Sicher­heits- oder Becken­gur­ten erhal­ten bleibt, wird eine inter­es­sen­ge­steu­er­te Kopf­be­we­gung, vor allem eine Rota­ti­on, bei gut auf­ge­rich­te­tem Kopf ermög­licht. Das Mäd­chen kann mit deut­lich weni­ger Nei­gung der gesam­ten Sitz­ein­heit auf­ge­rich­te­ter sit­zen und hat so bes­se­re Vor­aus­set­zun­gen für Akti­vi­tät und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Die Kopf­hal­tung ist auch für den Schluck­vor­gang güns­ti­ger (Abb. 12).

Bei einem älte­ren Mäd­chen mit ähn­li­cher Fra­ge­stel­lung kön­nen Bau­wei­se und Wir­kung einer sol­chen Kopf­un­ter­stüt­zung noch deut­li­cher dar­ge­stellt wer­den: Bei die­sem Mäd­chen wur­den ver­schie­de­ne Hals­krau­sen erprobt, die aber nicht zu einem befrie­di­gen­den Ergeb­nis führ­ten. Die ras­seln­den Atem­ge­räu­sche blie­ben bestehen, die Beweg­lich­keit des Kop­fes war stark ein­ge­schränkt, im Anschluss an epi­lep­ti­sche Krampf­an­fäl­le kam es zu einer ungüns­ti­gen Kopf­hal­tung. Mit der neu­en Kopf­un­ter­stüt­zung, die sich aktu­ell in der Test­pha­se befin­det, sind die Ergeb­nis­se nach den ers­ten Wochen posi­tiv: Die Pati­en­tin kann über län­ge­re Zeit getra­gen wer­den, es ist mehr Auf­rich­tung mög­lich, es gibt deut­lich weni­ger ras­seln­de Atem­ge­räu­sche und ein erfolg­rei­che­res Aus­hus­ten. Das Mäd­chen ist ent­spannt, es ent­ste­hen kei­ne Nach­tei­le wäh­rend epi­lep­ti­scher Krampf­an­fäl­le, die adäqua­te Kopf­hal­tung bleibt über Krampf­an­fäl­le hin­weg bestehen oder wird auto­ma­tisch wie­der ein­ge­nom­men (Abb. 13).

Fazit

Wie auf­ge­zeigt wur­de, lohnt es sich, ein grund­sätz­li­ches Ver­ständ­nis der Pro­ble­me im Zusam­men­hang mit der Sitz­hal­tung anzu­stre­ben. Dabei soll­te die Not­wen­dig­keit von Hal­tungs­va­ria­tio­nen in Sitz­un­ter­stüt­zun­gen aner­kannt und die Mög­lich­kei­ten zur Abwei­chung von defi­nier­ten Aus­gangs­stel­lun­gen berück­sich­tigt, ein­ge­plant und in einem defi­nier­ten Rah­men zuge­las­sen wer­den. Es ist auch mög­lich, soge­nann­te patho­lo­gi­sche Bewe­gungs­mus­ter in einem umschrie­be­nen Rah­men zuzu­las­sen und beson­ders bei Spas­tik den erschöp­fen­den Kampf gegen rigi­de Begren­zun­gen zu ver­mei­den oder zu redu­zie­ren. Die Resul­ta­te die­ser Bestre­bun­gen sind ermu­ti­gend und spor­nen zur Anwen­dung und Wei­ter­ent­wick­lung an.

Der Autor:
Urs Bäch­li
Ergo­the­ra­peut FH,
MSc Neu­ro­or­tho­pä­die –
Disa­bi­li­ty Management
Wolf­gang­hof 7a
CH-9014 St. Gallen
Schweiz
urs.baechli@bluewin.ch

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Bäch­li U. Orga­ni­sa­ti­on von Sitz­un­ter­stüt­zung – neue Ideen mit mehr Bewe­gung. Ortho­pä­die Tech­nik, 2017; 68 (10): 36–41
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