OT: Wie kam es zu der Projektidee?
Daniel Merbold: Im Verbund des Netzwerks „Imagine-OT“ gibt es viele kreative und innovative Orthopädietechniker. Im Alltag entstehen die besten Ideen und die werden ins Netzwerk eingebracht und diskutiert. Dann wird geprüft, ob solche Ideen Innovationspotential haben und auch marktrelevant sein könnten. In diesem Fall war es so, dass die Firma Orthopädietechnik Schädlich GmbH aus Berlin auf mich zukam und sagte: „Mensch, wir haben hier eine tolle Idee – Ist daraus was machbar?“. Und dann haben wir uns zusammengesetzt und deren Vorstellungen abgeglichen mit dem, was man umsetzen kann. Und auf diese Weise ist der Stein für dieses Projekt ins Rollen gekommen.
OT: Was ist das Besondere bei diesem Projekt?
Merbold: Ortsgebundene 3D-Ganganalyselabore bilden nach wie vor den Goldstandard der Zeit. Sie liefern hervorragende Messergebnisse, aber sie sind stationär und damit extrem kostenintensiv sowohl in der Anschaffung als auch im Unterhalt. Sie benötigen ein hohes Maß an Erfahrung und Interpretationsfähigkeit des anwendenden Technikers und sie brauchen große Räumlichkeiten. Alles Faktoren, die bei einem Orthopädietechnik-Betrieb oft nicht gegeben sind. Deshalb stellte sich das F&E‑Konsortium die Frage: Was gibt es an ortsunabhängigen Systemen? Und da gibt es sicherlich welche, die funktionieren, aber auch dort ist der Faktor „maschinelle Interpretation von Messdaten“ nicht hinterlegt. Es gibt demnach kein Tool wie dieses System, das eine Handlungsempfehlung zur Einstellung von Prothesen ausspricht und dann auch noch ortsunabhängig. Am besten lässt sich das Besondere des Projekts anhand eines Beispiels erklären: Ein Orthopädietechniker, der viel Erfahrung hat, sieht den Gang eines Prothesenträgers und weiß sofort, an welcher Schraube er drehen muss, um das Gangbild zu optimieren. Ein junger Orthopädietechniker oder ein Auszubildender hat diese Erfahrungen aber noch nicht. Die Frage an das Projekt lautete demnach: Wie kann man mittels Digitalisierung erreichen, dass Orthopädietechniker mit unterschiedlichen Erfahrungsniveaus am Ende die Patienten mit optimalen Protheseneinstellergebnissen versorgen, die denen eines erfahrenen Orthopädietechnikers entsprechen? Das war der Hintergrund für dieses Projekt.
Das „gute“ Gefühl des Anwenders einer Prothese zählt
OT: Wie funktioniert die neue Technologie?
Merbold: Wir haben ein Messmodul entwickelt, das für einen bestimmten Zeitraum in die Prothese eingeschraubt wird. Darin integriert wurden mehrere IMUs (Inertial Measurements Unit), die beispielsweise die Beschleunigung, die Lage im Raum sowie die Lage zueinander erfassen. Zukünftig ist die sinnvolle Erweiterung der Sensoranzahl und ‑art möglich und geplant. Die Messdaten werden an einen bereits vortrainierten Klassikator übermittelt, der ein neuronales Netz darstellt, das mit Informationen über natürliches Gehen und das Gehen mit Prothesen gespeist wurde. Dieser Klassikator bzw. das Tool gleicht das vortrainierte Wissen mit den Daten ab, die es über das Messmodul in der Prothese bekommt und gibt dann Handlungsempfehlungen.
OT: Wie müssen wir uns das im Detail vorstellen?
Merbold: In der Lehre der Orthopädie-Technik gibt es eine klare Abfolge der Versorgung einer Prothese. Daran angelehnt führt die Software den Orthopädietechniker Schritt für Schritt durch diese Aufbaurichtlinien. Die Technik arbeitet dabei intuitiv, d. h. der Orthopädietechniker muss nicht lernen mit der Software umzugehen, sondern das System orientiert sich an dem Alltagsprozess der Einstellung einer Prothese. Das heißt: Der Anwender läuft, das System misst und überträgt die Daten auf den Laptop oder das Tablet – perspektivisch dann zu einer Virtual-Reality-Brille. Die Software kommt dann beispielsweise zu der Erkenntnis, dass der Prothesenfuß des Anwenders zu weit dorsal extendiert ist, er also zu schnell über die Prothesenseite abrollt. Der Orthopädietechniker erhält somit von der VarioFit-Software den Hinweis: Bitte kontrollieren Sie die Fußstellung und stellen sie möglicherweise etwas weiter plantar. Das ist wie ein iterativer Prozess, das heißt dieser Schritt wird wiederholt und das System sagt, ob es jetzt gut ist im biomechanischen Sinn oder noch nicht.
OT: Wie verändert sich die Arbeit des Orthopädietechnikers?
Merbold: Uns ist wichtig zu sagen, dass das System nur Handlungsempfehlungen gibt. Man hat jederzeit auch die Möglichkeit zu sagen, ja das ist gut so und was das System in Bezug auf die Biomechanik vorschlägt, ist für die Einstellung dieser speziellen Prothese eventuell nicht relevant bzw. anwendbar. Wir kennen das aus unserem Alltag, dass Anwender auch mit nicht-biomechanisch korrektem Aufbau lieber laufen als mit dem korrekten Aufbau. Natürlich muss man da unter Umständen im Hinblick auf die individuellen Bedürfnisse des Anwenders auch Abstriche bei den Systemempfehlungen machen. Denn: Die Prothese muss natürlich vom Orthopädietechniker so eingestellt werden, dass der Anwender damit gut läuft und nicht nur, weil das System es so empfiehlt.
Den Beruf modern und digital gestalten
OT: Sie planen die Technologie einer VR-Brille bzw. Augmented Reality (AR) in das Projekt zu integrieren. Warum?
Merbold: Unser Handwerksberuf befindet sich mitten in einem Wandel. Die Digitalisierung hält Einzug in die Werkstätten und in die Prozesse, aber auch in die Herstellung verschiedener Produkte. Mittels neuer Verfahren werden Produkte und Prozesse digitalisiert. Aber ich denke, die Digitalisierung hat noch sehr viel Potenzial. Man kann das natürlich mit gemischten Gefühlen sehen, aber aufhalten kann man diese Entwicklung nicht. Die Frage ist also: Wie kann man es am besten nutzbringend für unsere Branche einsetzen? Bisherige Digitalisierungsprojekte konzentrierten sich darauf, den Fertigungsprozess zu digitalisieren und anwendbare Produktentwicklungen zu generieren. Aber über den Schritt danach, wie gehe ich mit dem Produkt um, also die Digitalisierung in den Umgang mit den Kunden und dem fertigen Produkt zu integrieren, da gibt es relativ wenig bekannte Projekte. Deshalb lag es für uns nahe, diese VR- bzw. AR-Technologie in das Projekt als i‑Tüpfelchen zu integrieren. Eine Brille, auch wenn sie hoch technologisiert und auch aktuell noch kostenintensiv ist, ist innovativ und mitunter attraktiver bei der Produktpräsentation als ein Computerbildschirm. Zudem müssen wir davon ausgehen, dass immer mehr jüngere Menschen mit Erwartungen an die digitale Technik in unseren Beruf wechseln und solch eine VR-Brille, die dank unserer Technologie die Versorgung am Patienten unterstützt, wäre dabei eine ideale Möglichkeit, die modernen Technologien in unserem Berufsbild zu verankern.
OT: Ist Ihre Technologie für alle gängigen Unterschenkelprothesen einsetzbar?
Merbold: Ja. Es ist uns gelungen, die gesamte Elektronik, Sensorik und Energieversorgung auf eine handelsübliche Adaptergröße zu bringen. Da das Modul so klein ist, kann es in jede Unterschenkelprothese geschraubt werden – ähnlich wie ein Verschiebeadapter. Das System arbeitet herstellerunabhängig und wird somit für alle gängigen Unterschenkelprothesen einsetzbar.
OT: Stichwort Zeitplan: Wann kann mit der Markteinführung gerechnet werden?
Merbold: Es wird keine erstattungsfähige Technik, sondern es wird ein Messsystem sein, dass sich ein Orthopädietechniker für den Werkstattgebrauch kaufen wird. Das System optimiert und standardisiert den „Fitting-Prozess“. Wir befinden uns noch in einem laufenden Forschungsprojekt und haben noch ca. ein Jahr geförderte Entwicklungszeit vor uns. Innerhalb der Zeit muss es erfolgreich umgesetzt werden. Nach Projektende wird es dann bestimmt noch einige Zeit dauern, bis aus unserem Prototyp, der jetzt im Labor getestet wird, ein marktreifes und für den Orthopädietechniker finanzierbares Produkt entwickelt wird.
OT: Wenn die Technologie in der Beinprothetik funktionieren sollte, gibt es aus Ihrer Sicht noch andere Einsatzmöglichkeiten für die Orthopädie-Technik?
Merbold: Das Forschungsprojekt hat sich jetzt aufgrund der Komplexität der Rechenleistung zunächst auf ein Segment, die Unterschenkelprothetik, gestützt, aber es spricht natürlich nichts dagegen, es auf gänzlich alle Bereiche der Prothetik und Orthetik auszuweiten.
Die Fragen stellte Irene Mechsner.
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