Von DDR bis MDR: Trans­for­ma­ti­on als Normalzustand

In Zeiten von Wahlkämpfen und Pandemie ist viel von Transformation die Rede. Über besonders einschneidende Transformationserfahrungen verfügen Orthopädietechniker:innen, die noch zu DDR-Zeiten ihre Ausbildung absolviert und/oder erste Schritte im Berufsleben unternommen haben und ab 1989 unter gänzlich anderen Bedingungen ihre Betriebe aufbauten. Über Transformation als Normalzustand sprach die Redaktion mit Frank Jüttner, Geschäftsführer der Jüttner-Orthopädie KG.

Der OTM und ehe­ma­li­ge BIV-OT-Prä­si­dent führt gemein­sam mit sei­ner Toch­ter Kath­rin und vier wei­te­ren Mit­glie­dern die Geschäf­te der von sei­nem Vater, dem Ortho­pä­die­me­cha­ni­ker-Meis­ter Max Jütt­ner, 1946 in Mühlhausen/Thüringen gegrün­de­ten Firma.

Anzei­ge

OT: Wie haben Sie die Hand­werks­struk­tur in der DDR im  Ver­gleich zur Bun­des­re­pu­blik wahrgenommen?

Frank Jütt­ner: Natür­lich hat die Begren­zung auf maxi­mal zehn Mitarbeiter:innen die Ent­wick­lung der Betrie­be ein­ge­schränkt, zumal wir bis in die 1980er-Jah­re kei­ne vor­ge­fer­tig­ten Tei­le benutzt haben. Jedes ein­zel­ne Hilfs­mit­tel wur­de kom­plett von Hand her­ge­stellt. Wenn Orthopädietechniker:innen ihr Hand­werk wirk­lich beherrsch­ten, war die Pass­form bes­ser als das, was heu­te manch­mal aus der Schach­tel kommt. Die vom zen­tra­lis­ti­schen Staat vor­ge­ge­be­nen ein­heit­li­chen Lehr­plä­ne waren im Ver­gleich zur heu­ti­gen Klein­staa­te­rei auf dem Gebiet der Bil­dung durch­aus ein Vor­teil. Im Übri­gen gab es nur einen Meis­ter­prü­fungs­aus­schuss, und zwar in Ber­lin, bei dem auch ich 1974 mei­ne Prü­fung abge­legt habe.

Auf­ge­ben oder wehren

OT: 1976 wur­den Sie Vor­sit­zen­der einer Pro­duk­ti­ons­ge­nos­sen­schaft des Hand­werks (PGH). Wie haben Sie als Vor­sit­zen­der die­se Trans­for­ma­ti­on erlebt und gestaltet?

Jütt­ner: Den Anstoß, die bei­den Hand­werks­be­trie­be zu einer PGH zusam­men­zu­schlie­ßen, erhiel­ten die bei­den Inha­ber – Max Jütt­ner und Albert Bör­ner – durch die staat­li­chen Plä­ne, in Hei­li­gen­stadt eine gro­ße OT-Werk­statt zu bau­en. Die bei­den stan­den vor der Fra­ge: auf­ge­ben oder weh­ren. Auf­ge­ben war kei­ne Opti­on, aber bei­de woll­ten nicht selbst die Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Da ich ohne­hin in den Start­lö­chern stand, um in den väter­li­chen Betrieb ein­zu­stei­gen, fiel die Wahl auf mich als Lei­ter der PGH mit zunächst ins­ge­samt 16 Mitarbeiter:innen. Jähr­lich muss­te ich einen neu­en Fünf­jah­res­plan erar­bei­ten und vor der Ört­li­chen Ver­sor­gungs­wirt­schaft (ÖVW), dem Finanz­amt, der Han­dels­kam­mer und der Bank vor­stel­len sowie ver­tei­di­gen. Nicht sel­ten hieß es in der Run­de, ich hät­te die sozia­lis­ti­sche Plan­wirt­schaft nicht ver­stan­den. Dann muss­te ich die Zah­len den Erwar­tun­gen ent­spre­chend ver­än­dern und eine Woche spä­ter erneut vor­le­gen. Nur so bekam ich die not­wen­di­gen Unter­schrif­ten und Stem­pel. Wobei dies kei­ne Garan­tie für die geplan­ten Belie­fe­run­gen war. Eine ver­rück­te Zeit! Man wuss­te nie, wel­ches Mate­ri­al man letzt­lich zur Ver­fü­gung haben wür­de. Und wie soll­te ich vor­ab genau wis­sen, wie vie­le Pro­the­sen­fü­ße oder Orthe­sen in wel­cher Grö­ße ich im nächs­ten Jahr oder in fünf Jah­ren brau­chen wür­de oder wel­che Maße die Ein­zel­tei­le haben müss­ten? Bezie­hun­gen waren des­halb das hal­be Leben!

OT: Wie sind Sie mit dem star­ren Plan- und dem (Mangel-)Liefersystem umgegangen?

Jütt­ner: Wir haben uns alle kol­le­gi­al ver­hal­ten, stan­den alle vor den glei­chen Her­aus­for­de­run­gen. Wenn ein Betrieb zu viel Pass­tei­le hat­te oder der ande­re zu wenig, tausch­ten wir unter­ein­an­der. Aller­dings hat die­ses Orga­ni­sie­ren von Mate­ri­al viel Zeit in Anspruch genommen.

Ver­sor­gung mit elek­tri­schen  Rollstühlen

OT: Wie war Ihr Ver­hält­nis zum 1953 gegrün­de­ten Leit­be­trieb der DDR, dem VEB Ortho­pä­die­tech­nik Ber­lin (OTB)?

Jütt­ner: Ob als selbst­stän­di­ger Hand­werks­be­trieb unter mei­nem Vater oder als PGH unter mei­ner Lei­tung – die Zusam­men­ar­beit war immer kol­le­gi­al. Man muss dazu sagen, dass die OTB nicht der Hand­werks­kam­mer, son­dern dem Ber­li­ner Magis­trat unter­stellt war. Die OTB war füh­rend in der For­schung sowie in der Wei­ter­bil­dung und Schu­lung der Hand­werks­be­trie­be. Außer­dem war sie ver­ant­wort­lich für die Satel­li­ten-OT-Werk­stät­ten auf Kuba und in Viet­nam. Und sie war der Tür­öff­ner für die Reha-Tech­nik, die ja lan­ge für die OT-Betrie­be kei­ne Rol­le spiel­te. Es gab nur die unglaub­lich schwe­ren Roll­stüh­le. Das war eine Kata­stro­phe für die Betrof­fe­nen. Die OTB impor­tier­te zum Glück ab Mit­te der 1970er-Jah­re elek­tri­sche Roll­stüh­le des dama­li­gen Welt­markt­füh­rers Mey­ra in die DDR und ver­teil­te sie. Ab 1978 ver­sorg­te dann unse­re PGH die Regi­on von der baye­ri­schen Gren­ze bis in den Harz im Auf­trag der OTB mit elek­tri­schen Roll­stüh­len und deren Ser­vice des west­deut­schen Unternehmens.

Insti­tu­tio­nel­ler und pri­va­ter Wissenstransfer

OT: Wie haben Sie sich zu DDR-Zei­ten über inter­na­tio­na­le Fort­schrit­te im OT-Bereich informiert?

Jütt­ner: Zum einen gab es die „Arbeits­ge­mein­schaft für Ortho­pä­die­me­cha­ni­ker und Ban­da­gis­ten“ der Deut­schen Gesell­schaft für Ortho­pä­die der DDR, in der eigent­lich alle OT-Meister:innen Mit­glie­der waren. Sie brach­te die Zeit­schrift „Ortho­pä­die­tech­ni­sche Infor­ma­tio­nen“ unter ande­rem mit Gast­bei­trä­gen aus dem Aus­land her­aus. OTB-Lei­ter Johann Bay­erl besaß eine Rei­se­er­laub­nis für das west­li­che Aus­land. Er hat­te immer wie­der neue Pro­duk­te im Gepäck, die wir uns ange­schaut und mit den uns zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mate­ria­li­en nach­ge­baut haben. Der Wis­sens­trans­fer geschah eben­falls auf pri­va­ter Ebe­ne. Mein Vater durf­te als Rent­ner in den Wes­ten rei­sen und brach­te von dort die eine oder ande­re Neu­heit mit.

OT: Wie beur­tei­len Sie die Qua­li­tät der ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung in der DDR?

Jütt­ner: Der Stand der Tech­nik und die Qua­li­tät der Ver­sor­gung haben sich im Ver­gleich zur BRD nicht viel genom­men. Natür­lich gab es in der DDR ande­re Mate­ria­li­en und dem­entspre­chend ande­re Ver­ar­bei­tungs­pa­ra­me­ter, aber der Wes­ten hat­te kei­nen wesent­li­chen Vor­sprung bei der tech­ni­schen Entwicklung.

Betrieb und Arbeits­plät­ze erhal­ten: Von der PGH zur KG

OT: Was hat Sie 1991 – zwei Jah­re nach der Fried­li­chen  Revo­lu­ti­on 1989 – moti­viert, sich als Jütt­ner Ortho­pä­die KG selbst­stän­dig zu machen?

Jütt­ner: Mich trieb damals vor allem die Ver­ant­wor­tung gegen­über unse­ren 53 Mitarbeiter:innen an. Da hin­gen genau­so vie­le Fami­li­en dran. Im Übri­gen alle 53 waren Mitinhaber:innen der Genos­sen­schaft. Sie alle woll­ten damals wei­ter­ma­chen. Also habe ich den Mitarbeiter:innen ihre PGH-Antei­le aus­ge­zahlt. Natür­lich konn­ten wir nicht alle sofort aus­zah­len, aber nach drei oder vier Jah­ren ist uns das Stück für Stück gelun­gen. Die Gesell­schafts­form als Kom­man­dit­ge­sell­schaft (KG) und damit Per­so­nen­ge­sell­schaft bot sich an, weil wir als PGH eben­falls eine Per­so­nen­ge­sell­schaft gewe­sen waren. Gleich­zei­tig ließ mir die KG alle Frei­hei­ten, über die Fort­ent­wick­lung des Unter­neh­mens zu entscheiden.

OT: Wie sah der Anfang aus?

Jütt­ner: Mit der ers­ten D‑Mark bin ich nach Kas­sel gefah­ren und habe mir ein Funk­te­le­fon gekauft. Emp­fang gab es aber nicht im Büro, nur auf einer Anhö­he in der Nähe von Mühl­hau­sen konn­te man ins West­netz tele­fo­nie­ren. Und tele­fo­nie­ren muss­ten wir, denn alle Ver­sor­gungs­struk­tu­ren der DDR waren zusam­men­ge­bro­chen. Mit­hil­fe des Tele­fons konn­te ich bei der Ein­kaufs­ge­nos­sen­schaft EGROH, in die ich schnell ein­ge­tre­ten bin, die jeweils benö­tig­ten Waren bestel­len. Denn der Bedarf an Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung war bei uns in der Regi­on wei­ter­hin stark. Anders als die Ost-Pro­duk­te, die schnell aus den Rega­len und Gedächt­nis­sen ver­schwan­den, war das Inter­es­se an unse­ren Dienst­leis­tun­gen wei­ter­hin hoch.

OT: Im Rück­blick – was waren die größ­ten Her­aus­for­de­run­gen bei die­sem Transformationsprozess?

Jütt­ner: Am meis­ten beschäf­tigt hat uns die Fra­ge: Wie lässt sich der Betrieb erhal­ten? Die größ­ten Bau­stel­len dabei waren das Per­so­nal und die Kas­sen­zu­las­sun­gen. Eini­ge unse­rer Mitarbeiter:innen sind zeit­wei­lig Rich­tung Wes­ten abge­wan­dert, schließ­lich sit­zen wir nur zehn Kilo­me­ter von der ehe­ma­li­gen Gren­ze ent­fernt. Zum Glück sind vie­le wie­der­ge­kom­men. Viel Zeit haben uns die ver­schie­de­nen Kas­sen­zu­las­sun­gen gekos­tet. Was da alles not­wen­dig war! Zudem hat­ten wir Angst, dass die Behör­den den Betrieb schlie­ßen, weil die Bau­sub­stanz unse­res Stand­orts eher brü­chig war. Im Mai 1993 konn­ten wir end­lich einen Neu­bau bezie­hen, sodass an die­ser Stel­le mehr Ruhe ein­kehr­te. Wie wir das geschafft haben? Wir haben nicht groß nach­ge­dacht, son­dern ein­fach gemacht.

Beson­nen­heit trotz aller Umbrüche

OT: Was geben Sie jün­ge­ren Kolleg:innen für den Umgang mit Kri­sen- oder Umbruch­zei­ten mit auf den Weg?

Jütt­ner: Beson­nen­heit! Wie heißt es so schön: Es wird alles nicht so heiß geges­sen, wie es gekocht wird. Wobei ich sagen muss, dass ein Neu­start – heu­te – unter den gege­be­nen Umstän­den sehr schwie­rig ist. Der Staat und sei­ne Behör­den ver­hin­dern fast schon die Ent­wick­lung unse­rer Betrie­be und för­dern die Kon­zen­tra­ti­on gro­ßer Unter­neh­men. Denn klei­ne Betrie­be kön­nen all die vie­len Anfor­de­run­gen und Auf­la­gen von Prä­qua­li­fi­zie­rung bis zur jüngs­ten Ein­füh­rung der Medi­cal Device Regu­la­ti­on (MDR) kaum rea­li­sie­ren. Gera­de im Umfeld der Bun­des­tags­wahl ist klar, dass es ein „Wei­ter so“ nicht geben kann. Die Men­schen erwar­ten Ver­än­de­run­gen, ob im Gesund­heits­we­sen oder im Umwelt­be­reich. Das The­ma Trans­for­ma­ti­on bleibt uns auf jeden Fall erhalten.

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

 

Tei­len Sie die­sen Inhalt