Ein Auf­ent­halt im Labyrinth

Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) sowie Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) sind bei der ganzheit­lichen und interdisziplinären Behandlung eine zentrale Anlaufstelle. Doch es mangelt nicht nur an einer flächendeckenden Versorgung, findet ­Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Als Labyrinth bezeichnet er den Genehmigungsprozess der Verordnungen. Im Gespräch mit der OT-Redaktion erläutert er die Hintergründe und macht deutlich, welche Veränderungen es für die Zukunft braucht.

OT: Eine gute medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung scheint für die meis­ten in Deutsch­land selbst­ver­ständ­lich. Gilt das auch für Men­schen mit Behinderungen?

Jür­gen Dusel: Das ist eine Fra­ge des Blick­win­kels. Grundsätz­lich ist die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung von Men­schen mit Behin­de­run­gen gesi­chert. Sie sind kran­ken­ver­si­chert und kön­nen theo­re­tisch alle nie­der­ge­las­se­nen Ärzt:innen auf­su­chen. Dar­über hin­aus gibt es – übri­gens ent­spre­chend der Ver­pflich­tung, die Deutsch­land mit Rati­fi­zie­rung der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on ein­ge­gan­gen ist, – Spezial­einrichtungen für Men­schen mit Behin­de­run­gen wie ­Sozi­al­päd­ia­tri­sche Zen­tren und Medi­zi­ni­sche Zen­tren für Erwach­se­ne mit Behin­de­run­gen. Das ist die eine Sei­te. Die Rea­li­tät sieht natür­lich immer wie­der anders aus. Inter­net­sei­ten und Arzt­pra­xen sind nicht bar­rie­re­frei, Ärzt:innen und ihre Mitarbeiter:innen sind nicht auf die Behand­lung von Men­schen mit Behin­de­run­gen ein­ge­stellt, das­sel­be gilt für Kran­ken­häu­ser und Reha­bi­li­ta­ti­ons­ein­rich­tun­gen. ­Reha­bi­li­ta­ti­ons­maß­nah­men wer­den mit der Begrün­dung abge­lehnt, Men­schen mit einer Behin­de­rung sei­en nicht „reha­bi­li­ta­ti­ons­fä­hig“. Hilfs­mit­tel­ver­ord­nun­gen brau­chen bis zu ihrer Bewil­li­gung Mona­te oder wer­den erst nach lang­wie­ri­gen Ein­spruchs- und Kla­ge­ver­fah­ren bewil­ligt, Seh- und Hör­be­ein­träch­ti­gun­gen wer­den nicht erkannt, weil es die erfor­der­li­chen Scree­ning­ver­fah­ren schlicht­weg nicht gibt, MZEB sind häu­fig viel zu weit ent­fernt und der Zugang zur Behand­lung wird erschwert. Das ist nur eine bei­spiel­haf­te Auf­zäh­lung der Hür­den, vor denen Men­schen mit Behin­de­rung in unse­rem Gesund­heits­we­sen ste­hen. Die Lis­te lie­ße sich pro­blem­los ver­län­gern. Man könn­te also sagen, dass eine gute medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung für Men­schen mit Behin­de­run­gen in Deutsch­land exis­tiert, dass sie aber weit davon ent­fernt ist, selbst­ver­ständ­lich und vor allem dis­kri­mi­nie­rungs­frei zu sein – wie es die UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on for­dert. Inso­fern gibt es hier Handlungsbedarf.

OT: Sie for­dern, künf­tig der Exper­ti­se der Sozi­al­päd­ia­tri­schen Zen­tren zu ver­trau­en und damit auf Prü­fun­gen von Hilfs­mit­tel­ver­ord­nun­gen durch den Medi­zi­ni­schen Dienst zu ver­zich­ten. War­um ist die­ser Schritt notwendig?

Dusel: Der­zeit wer­den Ver­ord­nun­gen von Kran­ken­kas­sen häu­fig mit Ver­weis auf die Prü­fung durch den Medi­zi­ni­schen Dienst abge­lehnt, bis­wei­len hat man den Ein­druck, dass dies fast regel­haft geschieht. Patient:innen kön­nen dann Wider­spruch ein­le­gen. Wird auch der Wider­spruch abge­lehnt, steht ihnen der Kla­ge­weg offen. Das sind alles kom­ple­xe und zeit­auf­wen­di­ge Ver­wal­tungs­ab­läu­fe und recht­li­che Ver­fah­ren, die man mit dem Auf­ent­halt in einem Laby­rinth ver­glei­chen kann: Man muss sich schon gut aus­ken­nen, wenn man auch nur in einer ange­mes­se­nen Frist wie­der her­aus­kom­men will. Im Ergeb­nis führt das häu­fig dazu, dass gera­de bei Kin­dern und Jugend­li­chen ent­wick­lungs­be­ding­te Zeit­fens­ter nicht genutzt wer­den kön­nen, Fähig­kei­ten gar nicht erst auf­ge­baut oder nicht erhal­ten wer­den kön­nen. Das ist nicht hin­nehm­bar. Auch ich habe daher den Vor­schlag gemacht, dass Ver­ord­nun­gen von SPZ oder MZEB als geneh­migt gel­ten soll­ten, denn dort ist bereits gro­ßer inter­dis­zi­pli­nä­rer Sach­ver­stand vor­han­den, der nicht von Kran­ken­kas­sen und Medi­zi­ni­schem Dienst immer wie­der infra­ge gestellt wer­den sollte.

Gesund­heit ohne Diskriminierung

OT: Inwie­fern spielt die UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on dabei eine Rolle?

Dusel: Arti­kel 25 der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on beschreibt das Recht behin­der­ter Men­schen auf den Genuss des erreich­ba­ren Höchst­ma­ßes an Gesund­heit ohne Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund von Behin­de­rung. Ins­be­son­de­re ver­pflich­ten sich die Ver­trags­staa­ten, Men­schen mit Behin­de­run­gen eine unent­gelt­li­che oder erschwing­li­che Gesund­heits­ver­sor­gung in der­sel­ben Band­brei­te, von ­der­sel­ben Qua­li­tät und auf dem­sel­ben Stan­dard wie ande­ren Men­schen zur Ver­fü­gung zu stel­len und Gesund­heits­leis­tun­gen anzu­bie­ten, die von Men­schen mit Behin­de­run­gen spe­zi­ell wegen ihrer Behin­de­run­gen benö­tigt wer­den, soweit ange­bracht, ein­schließ­lich Früh­erken­nung und Früh­in­ter­ven­ti­on, sowie Leis­tun­gen, durch die, auch bei Kin­dern und älte­ren Men­schen, wei­te­re Behin­de­run­gen mög­lichst gering gehal­ten oder ver­mie­den wer­den ­sol­len. Das lässt sich direkt auf die Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln über­tra­gen und ver­deut­licht sehr schön, dass bei Kin­dern das Augen­merk dar­auf zu legen ist, dass wei­te­re Behin­de­run­gen mög­lichst gering gehal­ten oder ver­mie­den wer­den sol­len. Hier sind also ande­re Maß­stä­be anzu­le­gen als bei Men­schen ohne Behin­de­run­gen. Unser Gesund­heits­sys­tem muss sich fra­gen las­sen, ob es die­ser Ver­pflich­tung nachkommt.

OT: Wie genau ver­su­chen Sie die­se For­de­rung durch­zu­set­zen? Wird das noch in die­ser Legis­la­tur­pe­ri­ode passieren?

Dusel: Ich brin­ge die­ser For­de­rung auf allen Ebe­nen in mei­ne Arbeit ein – im Gespräch mit dem Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter, den Abge­ord­ne­ten des Gesund­heits­aus­schus­ses und auch bei Inter­view­fra­gen wie die­sen. Ich bin sehr zuver­sicht­lich, dass das Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um den Vor­schlag auf­grei­fen und gesetz­lich umset­zen wird.

OT: Gibt es wei­te­re Hür­den, mit denen SPZ bzw. die Patient:innen und deren Ange­hö­ri­ge, die die­se auf­su­chen, kämpfen?

Dusel: Es erstaunt mich immer wie­der, dass mir dar­über ­hin­aus kei­ne Beschwer­den zu SPZ vor­lie­gen. Ins­ge­samt scheint die Ver­sor­gung mit und in SPZ zu funk­tio­nie­ren. Ansons­ten wäre dies die Stel­le, an der ich alle auf­for­dern wür­de, mir Pro­blem­la­gen mit­zu­tei­len. Ich füh­re auch eine Fach­ver­an­stal­tung mit Ver­bän­den, Wissenschaftler:innen und ­Betrof­fe­nen zur gesund­heit­li­chen Ver­sor­gung von Men­schen mit intel­lek­tu­el­len Beein­träch­ti­gun­gen durch, von der ich mir dies­be­züg­lich auch noch Erkennt­nis­se erhoffe.

Klar­stel­lung der Aufgaben

OT: Büro­kra­tie, lan­ge Anfahrts­we­ge, kei­ne flä­chen­de­cken­de Ver­sor­gung: Kri­tik wird von Ihrer Sei­te auch hin­sicht­lich des Auf- und Aus­baus der MZEB laut. Wel­che Ver­än­de­run­gen braucht es hier? Wie kön­nen Ver­sor­ger, Patient:innen und Fami­li­en wei­ter ent­las­tet werden?

Dusel: In ers­ter Linie braucht es mehr MZEB in Deutsch­land. Da sind wir noch lan­ge nicht bei einer flä­chen­de­cken­den Ver­sor­gung ange­kom­men. Des­we­gen wur­de der Auf- und Aus­bau ja auch als Ziel in den Koali­ti­ons­ver­trag auf­ge­nom­men. Um zu mehr MZEB in Deutsch­land zu kom­men, müss­ten auch in die­sem Bereich die Zulas­sungs­ver­fah­ren sowie die Ver­gü­tungs­ver­hand­lun­gen ver­schlankt und ver­bes­sert wer­den. Ich hof­fe da auf Unter­stüt­zung der Län­der, in deren Inter­es­se es lie­gen soll­te, dass es hin­rei­chend ­vie­le MZEB in ihrem Zustän­dig­keits­be­reich gibt. Dar­über hin­aus wün­sche ich mir aber auch eine Klar­stel­lung gegen­über den Kran­ken­kas­sen, was kon­kret die Auf­ga­ben von MZEB sind, damit die­se nicht stän­dig in der Arbeit ein­ge­schränkt wer­den. So machen Kran­ken­kas­sen bei­spiels­wei­se Vor­gaben, wonach MZEB nur Erst­ver­ord­nun­gen aus­stel­len dür­fen oder die Anzahl von Fäl­len, die sie behan­deln dür­fen, beschränkt wird. Das ist schlicht­weg kon­tra­pro­duk­tiv für die gesund­heit­li­che Ver­sor­gung von Men­schen mit Behinderungen.

OT: Ins­be­son­de­re durch die Coro­na-Pan­de­mie sahen Sie die Exis­tenz von SPZ und MZEB teil­wei­se bedroht. Konn­te die­ser Ent­wick­lung ent­ge­gen­ge­steu­ert werden?

Dusel: Ja, es wur­den finan­zi­el­le Aus­glei­che ermög­licht, und mir ist nicht bekannt, dass wegen der Pan­de­mie ein MZEB schlie­ßen muss­te, aber das heißt nicht, dass die­se nicht durch die Pan­de­mie erheb­lich belas­tet wurden.

OT: Ihre Amts­zeit steht unter dem Mot­to „Demo­kra­tie braucht Inklu­si­on“. Spie­gelt sich das auch in die­ser The­ma­tik wider?

Dusel: „Demo­kra­tie braucht Inklu­si­on“ fin­det als Prin­zip sei­ne Ent­spre­chung in allen The­ma­ti­ken. Inklu­si­on ist unab­ding­ba­re Vor­aus­set­zung für eine gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be, die wie­der­um mei­ner Mei­nung nach Vor­aus­set­zung für das Gelin­gen einer Demo­kra­tie ist. Wie gut ist eine Demo­kra­tie, an der nicht alle voll­um­fäng­lich teil­ha­ben kön­nen? Wenn Sie das also über­tra­gen wol­len auf eine ange­mes­se­ne Gesund­heits­ver­sor­gung von Men­schen mit Behin­de­run­gen – und dazu gehö­ren u. a. sowohl Spe­zi­al­ein­rich­tun­gen als auch Bar­rie­re­frei­heit als auch die ­erfor­der­li­che Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln –, dann wird die­se Bestand­teil einer inklu­si­ven Gesell­schaft sein und eine umfas­sen­de Teil­ha­be an der Demo­kra­tie auf allen Ebe­nen und für alle Men­schen ermög­li­chen. Das ist aber natür­lich ein Pro­zess und kein Schal­ter, den man umle­gen kann. Daher habe ich die­ses Mot­to auch in mei­ner zwei­ten Amts­zeit bei­be­hal­ten und freue mich, wenn wir hier Fort­schrit­te machen, denn ich bin der fes­ten Über­zeu­gung, dass ein Schritt in Rich­tung mehr Inklu­si­on auch ein guter Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung für unse­re Demo­kra­tie ist.

Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

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