Auf Augen­hö­he in Sani­täts­haus und Werkstatt

Kaum ein Gespräch mit Geschäftsführer:innen von Orthopädietechnik-Betrieben kommt ohne die Beteuerung aus, dass Werkstatt und Sanitätshaus eine Einheit sind. Wie sieht das Verhältnis von Handwerk und Verkauf im Alltag tatsächlich aus? Hat es sich durch die zunehmende Qualifizierung des Sanitätshauspersonals verändert? Darüber sprach die OT-Redaktion mit Petra Menkel, Bandagistenmeisterin und Geschäftsführerin der Paul Schulze Orthopädie & Bandagen GmbH in Berlin, die an vier Standorten rund 30 Mitarbeiter:innen beschäftigt.

OT: In OT-Betrie­ben ste­hen die Frau­en nicht am Herd, son­dern am Ver­kaufs­tre­sen – trifft die­ses Kli­schee auch auf Ihr Haus zu?

Petra Men­kel: Kei­nes­wegs! In unse­rer Ortho­pä­die-Tech­nik arbei­ten sechs Frau­en und vier Män­ner, und zwar unter der Lei­tung einer OT-Meis­te­rin. Die Ortho­pä­die­schuh­tech­nik-Werk­statt mit zwei Män­nern wird von einem OST-Meis­ter gelei­tet. Eine Ban­da­gis­tin hat die Lei­tung unse­rer Sani­täts­haus­ab­tei­lung mit sechs Frau­en und zwei Män­nern inne. Selbst in unse­rer Geschäfts­lei­tung sind mit Ste­phan Schild­hau­er und mir als geschäfts­füh­ren­de Gesell­schaf­ter bei­de Geschlech­ter am Start.

Anglei­chung der Gehälter

OT: In Deutsch­land speist sich ein Groß­teil des Selbst­wert­ge­fühls über die Höhe des monat­li­chen Ein­kom­mens. Ent­steht damit nicht auto­ma­tisch ein Gra­ben zwi­schen Werk­statt und Verkauf?

Men­kel: Bis vor eini­gen Jah­ren traf das zu. Inzwi­schen hat sich viel geän­dert. Das Lohn­ni­veau der Sanitätshausfachverkäufer:innen hat sich mit rund 2.200 bis 2.800 Euro pro Monat dem der Werkstattmitarbeiter:innen ange­gli­chen. Bei den Aus­zu­bil­den­den gibt es aller­dings noch immer Unter­schie­de. Die Sanitätshausmitarbeiter:innen sind tra­di­tio­nell den Indus­trie- und Han­dels­kam­mern ange­glie­dert und in der Bezah­lung in der Kate­go­rie Ein­zel­han­dels­kauf­man­n/-frau ein­ge­ord­net. Im ers­ten Aus­bil­dungs­jahr ver­die­nen sie daher monat­lich schon um die 1.000 Euro, wäh­rend OT- und OST-Aus­zu­bil­den­de den Hand­werks­kam­mern zuge­ord­net sind. Mit rund 500 Euro Monats­lohn im ers­ten Jahr trifft auf sie die im Hand­werk noch immer schlecht bezahl­te Aus­bil­dungs­ver­gü­tung zu. Berufs­po­li­tisch ver­su­chen wir über den Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT) und die Lan­des­in­nun­gen dar­an etwas zu ändern. Gemein­sam arbei­ten wir an einer Erhö­hung der Gehäl­ter für Aus­zu­bil­den­de. Es muss aber auch bezahl­bar blei­ben, denn die Aus­bil­dung von Handwerker:innen braucht viel Enga­ge­ment und Zeit der Werkstattkolleg:innen. In den ers­ten Mona­ten wer­den hand­werk­li­che Grund­kennt­nis­se ver­mit­telt und erst danach geht es in die auf­trags­be­zo­ge­ne Arbeit, wo auch unter­stüt­zend gear­bei­tet wird.

OT: Wie kam es zur Anglei­chung der Gehälter?

Men­kel: Im Wesent­li­chen hat das zwei Grün­de. Zum einen wech­seln immer mehr Men­schen aus Pfle­ge­be­ru­fen in Sani­täts­häu­ser. Die­se wol­len natür­lich mit dem Wech­sel kei­ne Lohn­ein­bu­ßen ver­bin­den. Zwei­tens hat sich der Beruf der Sanitätshausfachverkäufer:innen ver­än­dert. Die­se sind zuneh­mend hoch qua­li­fi­ziert, zum Bei­spiel lym­pho­lo­gisch geschult, sie ken­nen die gesam­te Ange­bots­band­brei­te der Her­stel­ler und vor allem ihre Gren­zen. Denn zur Qua­li­fi­ka­ti­on gehört es zu wis­sen, wann eine Son­der­ver­sor­gung durch einen Kol­le­gen oder Kol­le­gin aus der Werk­statt not­wen­dig ist. Natür­lich reicht es nicht, ein­mal einen Wei­ter­bil­dungs­kurs zu absol­vie­ren. Die Betrie­be müs­sen bestän­dig an der Qua­li­fi­zie­rung ihrer Mitarbeiter:innen dran­blei­ben. In zahl­rei­chen Ver­trä­gen der letz­ten Jah­re mit den Kran­ken­kas­sen ist es sogar ver­trag­lich gefor­dert, dass die aus­füh­ren­den Mitarbeiter:innen ihre Kennt­nis­se alle drei Jah­re nach­weis­lich auf­fri­schen müs­sen. Das The­ma Qua­li­fi­zie­rung nimmt in den Ver­hand­lun­gen mit den Kran­ken­kas­sen einen immer grö­ße­ren Raum ein. Das stärkt die Wert­schät­zung von Geschäfts­lei­tung und Werk­statt gegen­über den Sanitätshausfachverkäufer:innen und deren Selbstbewusstsein.

Zukunft liegt in der Qualität

OT: Unter­stüt­zen Sie die berufs­po­li­ti­sche For­de­rung nach mehr trans­pa­ren­ter Qua­li­tät in Werk­statt und Sanitätshaus?

Men­kel: Abso­lut! Vor etwa fünf oder sechs Jah­ren haben der BIV-OT und die Lan­des­in­nun­gen ein Umden­ken auf den Weg gebracht. Unser gemein­sa­mes Cre­do ist: „Wir lie­fern Qua­li­tät – des­halb wol­len wir auch gut bezahlt wer­den.“ Damit ver­bun­den ist eine stän­di­ge mess­ba­re Qua­li­fi­zie­rung unse­rer Arbeit und Mitarbeiter:innen, ob im Sani­täts­haus oder in der Werk­statt. Ich fürch­te, das haben noch nicht alle in der Bran­che ver­stan­den. Neh­men Sie die Kolleg:innen, die etwa Ein­la­gen­ver­sor­gun­gen nach einem von einem Arzt oder einer Ärz­tin vor­ge­nom­me­nen Abdruck fer­ti­gen und dann an Patient:innen schi­cken. Auch die gibt es! Als Innun­gen kön­nen wir recht­lich nicht dage­gen vor­ge­hen. Aber die Kran­ken­kas­sen könn­ten es, wenn sie es denn woll­ten. Hier müss­ten wir sogar einen enge­ren Schul­ter­schluss mit den Kran­ken­kas­sen suchen. Oder neh­men sie die Bar­mer Ersatz­kas­se, die mit ihrer soge­nann­ten Online-Ein­la­gen­ver­sor­gung aus mei­ner Sicht einen Test­bal­lon gestar­tet hat, um zukünf­tig auch bei wei­te­ren Hilfs­mit­teln auf Qua­li­tät und deren Bezah­lung zu ver­zich­ten. Das ist der fal­sche Weg. Ich bin über­zeugt, dass allein in der nach­weis­ba­ren Qua­li­tät unse­rer indi­vi­du­el­len Bera­tungs­leis­tung und Hilfs­mit­tel­er­stel­lung bzw. ‑anpas­sung unse­re Zukunft liegt. Stan­dard­ver­sor­gun­gen aus der Schach­tel wer­den Algo­rith­men bald bes­ser kön­nen als wir. Da kön­nen wir logis­tisch nicht mithalten.

OT: Neh­men Sie Unter­schie­de in der Arbeits­kul­tur von Werk­statt und Sani­täts­haus sowie von Hand­werk und Ver­kauf wahr?

Men­kel: Der Ton in der Werk­statt ist direk­ter. Hier ärgert sich der eine oder ande­re der Mitarbeiter:innen laut­stark, wenn die eige­ne Arbeit oder die von Kolleg:innen nicht zufrie­den­stel­lend ist. Im Sani­täts­haus geht es dage­gen lei­ser zu.

OT: Wie neh­men Sie den Ton unter­ein­an­der wahr?

Men­kel: Der Ton unter­ein­an­der hat sich in den letz­ten Jah­ren ver­än­dert. Gab es frü­her ein Her­ab­bli­cken auf die Mit­ar­bei­ten­den in den Sani­täts­häu­sern, fin­det heu­te ein Dia­log auf Augen­hö­he zwi­schen Werk­statt und Ver­kauf statt. Dazu hat nicht nur die zuneh­men­de Qua­li­fi­zie­rung geführt. Zusätz­lich wir­ken sich hier die Erfah­run­gen aus der Coro­na-Zeit aus. In der Hoch­zeit der Pan­de­mie blieb das Sani­täts­haus geschlos­sen, in der zwei­ten Pha­se war das Sani­täts­haus nur halb­tags geöff­net und die Mitarbeiter:innen in Kurzarbeit.

Gleich­zei­tig ging die Arbeit in der Werk­statt auf Hoch­tou­ren wei­ter. Das führ­te durch­aus zu Kon­flik­ten. Par­al­lel haben die Werkstattmitarbeiter:innen aber auch haut­nah gespürt, wie wich­tig der Ver­kauf ist. Denn ohne das Per­so­nal im Sani­täts­haus ist die Gewin­nung von Kund:innen sehr schwer. Damit hat die Pan­de­mie eben­falls zu mehr Wert­schät­zung sei­tens der Werk­statt für das Sani­täts­haus geführt.

Ver­ständ­nis und Unterstützung

OT: Wie über­brü­cken Sie Kon­flik­te inner­halb des Betriebes?

Men­kel: Im Fal­le von Coro­na haben wir vie­le Gesprä­che geführt und alle Sei­ten ermun­tert, sich in die Schu­he des jeweils ande­ren zu stel­len. Techniker:innen, die einen gewis­sen Neid auf die Frei­zeit der ver­kürzt arbei­ten­den Ange­stell­ten äußer­ten, haben wir etwa ver­deut­licht, wel­che Vor­tei­le die Werk­statt im nor­ma­len All­tag bie­tet. Wer hier ange­stellt ist, kann mor­gens glei­tend zur Arbeit erschei­nen und kann am Frei­tag ab 13 Uhr gehen. Sanitätshausmitarbeiter:innen müs­sen hin­ge­gen fünf Tage die Woche von 9 bis 18 Uhr im Laden ste­hen. Sol­che Pro­zes­se für ein gegen­sei­ti­ges Ver­ständ­nis und gegen­sei­ti­ge Unter­stüt­zung beglei­ten wir aktiv. So sor­gen wir grund­sätz­lich dafür, dass jeder Aus­zu­bil­den­de in der jeweils ande­ren Welt Sta­ti­on macht. Nur durch eige­nes Erle­ben lernt man, dass bei­spiels­wei­se nicht jeder dem Stress an der Ver­kaufs­the­ke gewach­sen ist, wenn fünf Men­schen gleich­zei­tig mit einem Rezept in der Hand bedient wer­den wol­len. Umge­kehrt wird einem erst in der Werk­statt bewusst, wie kom­pli­ziert und lang­wie­rig etwa die Anfer­ti­gung einer indi­vi­du­el­len Orthe­se ist. Die­se Form der gegen­sei­ti­gen Sen­si­bi­li­sie­rung muss weit­ge­hend über die Betrie­be erfol­gen. Zum Glück wird seit eini­ger Zeit von den Gesell:innen in der Prü­fung auch ein Bera­tungs­ge­spräch mit Ver­sor­gungs­bei­spiel aus dem klas­si­schen Sani­täts­haus­be­reich wie der Kom­pres­si­ons- oder Ein­la­gen­ver­sor­gung gefor­dert. Bei uns ver­brin­gen die OT Lehr­lin­ge drei Mona­te inner­halb der Aus­bil­dung im Sanitätshaus.

OT: Was soll­te sich in den ver­schie­de­nen Aus­bil­dungs­gän­gen und viel­leicht sogar schon in den all­ge­mein­bil­den­den Schu­len ändern, um bereits hier gegen­sei­ti­ge Wert­schät­zung zu ver­mit­teln?

Men­kel: Hier braucht es einen viel enge­ren Schul­ter­schluss mit der Bil­dungs­po­li­tik in Bund und Län­dern. Ich wür­de mir wün­schen, dass schon in den Grund­schu­len und spä­tes­tens in den wei­ter­füh­ren­den Schu­len ver­mit­telt wird, dass man auch etwas wert ist, wenn man kein Abitur hat oder ein Hand­werk gelernt hat. Viel zu lan­ge haben wir als Gesell­schaft gefor­dert, jeder und jede müss­te Abitur und Stu­di­um auf­wei­sen, um aner­kannt zu wer­den. Das ist eine kata­stro­pha­le Ent­wick­lung, deren Ergeb­nis­se mit und nach Coro­na erst für vie­le sicht­bar wer­den, weil sie kei­ne Handwerker:innen mehr auf die Schnel­le bekom­men. Wir alle müs­sen als Gesell­schaft den Hand­werks­be­ru­fen wie­der mehr Wert zubil­li­gen und hier das Ruder schnell rum­rei­ßen. Einen Teil kön­nen wir OT Innun­gen dazu bei­tra­gen, indem wir auf­zei­gen, wie glück­lich uns unser Beruf am Men­schen macht und dass es viel sinn­stif­ten­der ist, ande­ren zu hel­fen, als nur an den Kon­to­stand zu denken.

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

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