100 Jah­re Otto­bock: Der Auf­bruch der drit­ten, digi­ta­len Generation

Professor Hans Georg Näder führt das Unternehmen in der dritten Generation. Sein Vater, Max Näder, übergab ihm zu seinem 75. Geburtstag im Jahre 1990 die Führung des Familienunternehmens. Hans Georg Näder war 28 Jahre alt, als er das Ruder übernahm. Gegründet wurde der heutige Weltmarktführer und „Hidden Champion“ von seinem Großvater, Otto Bock, in Berlin im Jahre 1919.

Dem Grün­der Otto Bock war es vor­be­hal­ten, die Pro­duk­ti­on von Pro­the­sen-Pass­tei­len in die indus­tri­el­le Seri­en­fer­ti­gung zu brin­gen. Das hieß, Arbeits­ab­läu­fe, die bis dato hand­werk­lich geprägt waren, wo immer es ging zu stan­dar­di­sie­ren. Es bedeu­te­te außer­dem, Roh­stof­fe in einer Art und einem Umfang zu orga­ni­sie­ren, die Mas­sen­pro­duk­ti­on ermög­lich­ten. So stieg Otto­bock unter ande­rem in die Kunst­stoff­fer­ti­gung ein. Nötig war die indus­tri­el­le Fer­ti­gung vor allem auf­grund der vie­len Opfer des Ers­ten Welt­kriegs, der zahl­rei­chen Men­schen mit Ampu­ta­tio­nen. Ohne die neu­en Her­stel­lungs­me­tho­den wäre die Ver­sor­gung die­ser Anzahl an Ver­sehr­ten nicht denk­bar gewe­sen auch wegen kriegs­be­ding­ten Man­gels an aus­ge­bil­de­ten Technikern.

Jetzt, 100 Jah­re nach der Grün­dung des Unter­neh­mens, berich­tet Pro­fes­sor Hans Georg Näder in einem Exklu­siv­ge­spräch mit Kirs­ten Abel, Lei­te­rin des Ver­lags OT, von sei­ner neu­en „Evo­lu­ti­on“ der Pati­en­ten­ver­sor­gung: der Digitalisierung.

Von der Bedarfs­er­he­bung, dem Maß­neh­men am Pati­en­ten, der Aus­wahl des indi­vi­du­el­len Pass­teils bis hin zur Abrech­nung und Zusam­men­ar­beit mit The­ra­peu­ten und Ärz­ten – Otto­bock will die Arbeit des Ortho­pä­die-Tech­ni­kers künf­tig in jedem Schritt mit digi­ta­len Lösun­gen kom­bi­nie­ren. Ziel: wie­der ein­mal die Pati­en­ten­ver­sor­gung umwälzen.

Otto­bock iScan® HGN

„Die Form des Schafts und die rich­ti­ge Mate­ri­al­mi­schung bei der Fer­ti­gung kann man nicht in die Seri­en­fer­ti­gung brin­gen, weil man sie nicht stan­dar­di­sie­ren kann.“ Die­ses Dogma­ for­der­te schon die Gene­ra­tio­nen vor ihm her­aus. Die Schnitt­stel­le zum Men­schen aber blieb der Hand­ar­beit und damit dem Hand­werk des Tech­ni­kers vor­be­hal­ten. Hans Georg Näder wur­de schon als Kind am hei­mi­schen Küchen­tisch mit Dis­kus­sio­nen um die Beson­der­hei­ten der Schaft­tech­ni­ken kon­fron­tiert. Damals war noch kei­ne Lösung in Sicht, und der Schaft setz­te der indus­tri­el­len Pro­duk­ti­on Grenzen.

Mit der Digi­ta­li­sie­rung, so Pro­fes­sor Näder, sei die­ses Pro­blem nun zu „kna­cken“. Digi­ta­li­sie­rung kom­bi­nie­re die Mas­sen­fer­ti­gung mit der indi­vi­du­el­len 1er-Serie. Die Lösung könn­te bei­spiels­wei­se in einem digi­ta­len Hand­schuh lie­gen, mit des­sen Hil­fe die Hap­tik des Tech­ni­kers nach­ge­bil­det wird: Der Meis­ter model­liert dann nicht mehr mit Gips. Mit­tels der Sen­so­ren des Hand­schuhs lässt er statt­des­sen ein digi­ta­les Modell ent­ste­hen. Er formt und mar­kiert druck­sen­si­ble Stel­len und knö­cher­ne Struk­tu­ren, die dem Halt des Schafts die­nen. An einem sol­chen Hand­schuh forscht die TU Ber­lin unter der Lei­tung von Pro­fes­sor Marc Kraft seit län­ge­rem. ­Otto­bock ist an dem For­schungs­pro­jekt beteiligt.

Auch die „smar­ten“ 3D-Scan­ner leis­ten bereits viel und wer­den inzwi­schen in der Kor­sett-Ver­sor­gung ein­ge­setzt. Das Pro­blem, dass der Scan des Pati­en­ten in einer kor­ri­gier­ten Kör­per­hal­tung erfol­gen muss, scheint durch die Digi­ta­li­sie­rung lös­bar: Am digi­ta­len Abgleich des Scans mit ent­spre­chen­den Ava­ta­ren, also digi­ta­len Dar­stel­lun­gen bzw. gra­fi­schen Ver­kör­pe­run­gen des zu ver­sor­gen­den Pati­en­ten, forscht Näder, bzw. Otto­bock nach eige­nen Anga­ben ebenfalls.

Otto­bock iDe­sign® HGN

Auch wenn jeder Schaft indi­vi­du­ell ist, so gibt es doch über­grei­fen­de Prin­zi­pi­en, die sich nach fol­gen­den Fra­gen beur­tei­len las­sen: Wie über­trägt und ver­teilt der Schaft den Druck auf den Stumpf? Wie haf­tet der Schaft dar­an? Die ent­spre­chen­den Grund­sät­ze haben Ortho­pä­die-Tech­ni­ker for­mu­liert – zum Bei­spiel Mar­lo Ortiz mit dem M.A.S.-Schaft. Sie sind kein Geheim­wis­sen. Jeder Tech­ni­ker kann und darf sie gegen Lizenz­ge­büh­ren oder Schu­lungs­kos­ten umset­zen. Sie sind wie „Blau­pau­sen“ – und könn­ten somit pro­gram­mier­bar sein. In Gestalt vir­tu­el­ler Schaft­for­men kön­nen die­se Prin­zi­pi­en in eine Daten­bank über­tra­gen wer­den, aus der sich der Tech­ni­ker bedie­nen kann. Die­se vir­tu­el­len Schäf­te müs­sen dann mit den jewei­li­gen pati­en­ten­spe­zi­fi­schen Daten kor­re­spon­die­ren. Die Pro­dukt­haf­tung oder das Medi­zin­pro­duk­te­ge­setz machen sol­che Vor­ha­ben jedoch abseits der ®evo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lung für eine Markt­an­wen­dung kompliziert.

Otto­bock iFab® HGN

Die Vor­tei­le digi­ta­ler Model­le und digi­ta­ler Schäf­te lie­gen vor allem in einer gra­vie­ren­den Pro­duk­ti­ons­ver­la­ge­rung: Die wohn­ort­na­he Pati­en­ten­ver­sor­gung benö­tigt die wohn­ort­na­he Fer­ti­gung nicht mehr. Das digi­ta­le Modell ver­kör­pert letzt­lich das Know-how und das Geschick des Tech­ni­kers. Über das Inter­net kann es über­all­hin ver­sen­det wer­den. Die Fabrik, wel­che die Tei­le fer­tigt – iFab genannt – muss ledig­lich in der Lage sein, die Daten umzu­set­zen und das Pro­dukt gemäß der ein­ge­ge­be­nen Form und der ange­ge­be­nen Bau­an­wei­sung zu fer­ti­gen. Dies kann über addi­ti­ve Fer­ti­gung und damit in 3D-Druck gesche­hen. Hans Georg Näder will sich mit dem iFab nicht auf eine Fer­ti­gungs­wei­se fest­le­gen; vom Tief­zie­hen bis zum Pre­preg soll hier alles gehen – aber eben in Zen­tral­fer­ti­gung. In das iFab inves­tiert er im Moment einen mitt­le­ren zwei­stel­li­gen Mil­lio­nen­be­trag. Stand­ort: Duder­stadt. Dabei denkt Näder durch­aus glo­bal. Kom­bi­niert mit neu­en Logis­tik­lö­sun­gen wie bei­spiels­wei­se Droh­nen las­sen sich in Zukunft auch bis­lang schwer zugäng­li­che Gebie­te im Aus­land ortho­pä­die­tech­nisch deut­lich bes­ser ver­sor­gen, dar­un­ter Ent­wick­lungs- oder Krisenländer.

iPro­cu­re­ment und iReimbursement

Jeder kennt inzwi­schen bei Apps den Hin­weis auf „inApp-Käu­fe“. Es han­delt sich um Geschäfts­mo­del­le, die unmit­tel­bar mit dem digi­ta­len Pro­dukt zusam­men­hän­gen. Das Frei­schal­ten zusätz­li­cher Fea­tures bzw. Eigen­schaf­ten erwei­tert des­sen Leis­tun­gen. Im Fal­le der digi­ta­len Geschäfts­mo­del­le sind „Tools“ wie digi­ta­le Trai­nings­ein­hei­ten und Geh­schu­len selbst­ver­ständ­lich. Sie sol­len Pati­en­ten und Anwen­der opti­mal im Gebrauch unter­stüt­zen. Sie ermög­li­chen es zudem, Daten zu erfas­sen – als digi­ta­les Kun­den­feed­back, als Evi­denz­nach­weis und als Grund­la­ge für neue Abrech­nungs­mo­del­le mit der ver­ant­wort­li­chen Kran­ken­kas­se. Im Zeit­al­ter der digi­ta­len Model­le hat das Fax für den Ein­zel­kos­ten­vor­anschlag end­gül­tig ausgedient.

Das Mind-Set der digi­ta­len Generation

Wer ein Unter­neh­men digi­ta­li­sie­ren möch­te, der braucht neben tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten vor allem einen Wan­del in der Unter­neh­mens­kul­tur. Der Schritt vom tra­di­tio­nel­len Seri­en­an­bie­ter zum digi­ta­len Unter­neh­men beinhal­tet mehr als das Ange­bot einer neu­en Tech­no­lo­gie. Die neu­en Methoden­ las­sen sich nicht ein­fach an das bestehen­de Fer­ti­gungs­sys­tem „ando­cken“. Wich­tig ist, die Her­stel­lung neu zu den­ken, neu zu erfin­den. Und den Mut auf­zu­brin­gen, das Unter­neh­men infra­ge zu stel­len – und bereit zu sein, das „Alte“ zu zer­stö­ren und dis­rup­tiv zu agieren.

Für die meis­ten Men­schen bedeu­tet Ver­än­de­rung nicht zuletzt Ver­un­si­che­rung. Für Hans Georg Näder gilt dies nicht. Ihm sind das dis­rup­ti­ve Den­ken und Han­deln als Stra­te­gien des Unter­neh­mens­er­folgs förm­lich in die Wie­ge gelegt wor­den. Sei­ne Fami­lie muss­te im Zuge einer dro­hen­den und fina­len Ent­eig­nung das Unter­neh­men zwei­mal kom­plett neu auf­bau­en. Mit Erfolg. Auch der Schritt zur Seri­en­fer­ti­gung geschah in der schluss­end­lich bestä­tig­ten Über­zeu­gung, dass die Indus­tria­li­sie­rung nicht das Ende der Pati­en­ten­ver­sor­gung ein­läu­tet, son­dern die Men­schen dadurch mehr und bes­ser ver­sorgt wer­den – und sich das Hand­werk par­al­lel wei­ter­ent­wi­ckeln und wach­sen konnte.

Es ist die gro­ße Stär­ke Hans Georg Näders, Dis­rup­ti­on – also die Zer­stö­rung eines alt­ge­dien­ten Sys­tems – nicht als Bedro­hung zu sehen, son­dern als Chan­ce. Als die Art und Wei­se, auf die sich Inno­va­ti­on durch­setzt. Um sei­ne Fir­ma für die Digi­ta­li­sie­rung fit zu machen, will Näder sie des­halb kom­plett neu erfin­den. Bereits 2012 prä­sen­tier­te er die neue Mar­ke „otto­bock.“, und der „Punkt“ hin­ter „otto­bock“ soll­te den Auf­bruch nach „Digi­ta­li­en“ signalisieren.

Dass er mit sei­nem Bekennt­nis zum dis­rup­ti­ven Cha­rak­ter der Digi­ta­li­sie­rung aneckt, weiß Näder – genau­so, dass die meis­ten Men­schen Ängs­te haben, wenn sich Umbrü­che ankün­di­gen. Schon damals, als sei­ne Fami­lie in die Seri­en­fer­ti­gung von Pass­tei­len ein­stieg, hat­te sie Schmäh­brie­fe erhal­ten. Wie einst sein Groß­va­ter und Vater, so wird Näder nicht müde zu beto­nen: „No worries (Kei­ne Ban­ge)! Die Chan­cen sind für alle viel grö­ßer. Es geht nicht um Revo­lu­ti­on, son­dern um Evo­lu­ti­on – die kon­se­quen­te Wei­ter- und Fort­ent­wick­lung der Ortho­pä­die-Tech­nik.“ Demo­gra­fi­scher Wan­del, fort­schrei­ten­des Wachs­tum der Volks­krank­hei­ten wie Dia­be­tes mel­li­tus sowie die Unter­ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln welt­weit machen effek­ti­ve und effi­zi­en­te Ver­sor­gung nötig. Des­halb sieht Prof. Näder die gro­ßen Chan­cen in der Kon­zen­tra­ti­on auf die Fer­tig­kei­ten der Tech­ni­ker, die mehr denn je am Pati­en­ten gebraucht wer­den – und durch die ­Digi­ta­li­sie­rung mehr Frei­raum für ihre eigent­li­che Beru­fung erhalten.

Als Chef von Otto­bock will Hans Georg Näder das ­Unter­neh­men mit sei­ner 100-jäh­ri­gen Tra­di­ti­on in ein neu­es digi­ta­les Zeit­al­ter füh­ren. Er lädt alle ein, dar­an teilzuhaben.

 

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