Dem Gründer Otto Bock war es vorbehalten, die Produktion von Prothesen-Passteilen in die industrielle Serienfertigung zu bringen. Das hieß, Arbeitsabläufe, die bis dato handwerklich geprägt waren, wo immer es ging zu standardisieren. Es bedeutete außerdem, Rohstoffe in einer Art und einem Umfang zu organisieren, die Massenproduktion ermöglichten. So stieg Ottobock unter anderem in die Kunststofffertigung ein. Nötig war die industrielle Fertigung vor allem aufgrund der vielen Opfer des Ersten Weltkriegs, der zahlreichen Menschen mit Amputationen. Ohne die neuen Herstellungsmethoden wäre die Versorgung dieser Anzahl an Versehrten nicht denkbar gewesen auch wegen kriegsbedingten Mangels an ausgebildeten Technikern.
Jetzt, 100 Jahre nach der Gründung des Unternehmens, berichtet Professor Hans Georg Näder in einem Exklusivgespräch mit Kirsten Abel, Leiterin des Verlags OT, von seiner neuen „Evolution“ der Patientenversorgung: der Digitalisierung.
Von der Bedarfserhebung, dem Maßnehmen am Patienten, der Auswahl des individuellen Passteils bis hin zur Abrechnung und Zusammenarbeit mit Therapeuten und Ärzten – Ottobock will die Arbeit des Orthopädie-Technikers künftig in jedem Schritt mit digitalen Lösungen kombinieren. Ziel: wieder einmal die Patientenversorgung umwälzen.
Ottobock iScan® HGN
„Die Form des Schafts und die richtige Materialmischung bei der Fertigung kann man nicht in die Serienfertigung bringen, weil man sie nicht standardisieren kann.“ Dieses Dogma forderte schon die Generationen vor ihm heraus. Die Schnittstelle zum Menschen aber blieb der Handarbeit und damit dem Handwerk des Technikers vorbehalten. Hans Georg Näder wurde schon als Kind am heimischen Küchentisch mit Diskussionen um die Besonderheiten der Schafttechniken konfrontiert. Damals war noch keine Lösung in Sicht, und der Schaft setzte der industriellen Produktion Grenzen.
Mit der Digitalisierung, so Professor Näder, sei dieses Problem nun zu „knacken“. Digitalisierung kombiniere die Massenfertigung mit der individuellen 1er-Serie. Die Lösung könnte beispielsweise in einem digitalen Handschuh liegen, mit dessen Hilfe die Haptik des Technikers nachgebildet wird: Der Meister modelliert dann nicht mehr mit Gips. Mittels der Sensoren des Handschuhs lässt er stattdessen ein digitales Modell entstehen. Er formt und markiert drucksensible Stellen und knöcherne Strukturen, die dem Halt des Schafts dienen. An einem solchen Handschuh forscht die TU Berlin unter der Leitung von Professor Marc Kraft seit längerem. Ottobock ist an dem Forschungsprojekt beteiligt.
Auch die „smarten“ 3D-Scanner leisten bereits viel und werden inzwischen in der Korsett-Versorgung eingesetzt. Das Problem, dass der Scan des Patienten in einer korrigierten Körperhaltung erfolgen muss, scheint durch die Digitalisierung lösbar: Am digitalen Abgleich des Scans mit entsprechenden Avataren, also digitalen Darstellungen bzw. grafischen Verkörperungen des zu versorgenden Patienten, forscht Näder, bzw. Ottobock nach eigenen Angaben ebenfalls.
Ottobock iDesign® HGN
Auch wenn jeder Schaft individuell ist, so gibt es doch übergreifende Prinzipien, die sich nach folgenden Fragen beurteilen lassen: Wie überträgt und verteilt der Schaft den Druck auf den Stumpf? Wie haftet der Schaft daran? Die entsprechenden Grundsätze haben Orthopädie-Techniker formuliert – zum Beispiel Marlo Ortiz mit dem M.A.S.-Schaft. Sie sind kein Geheimwissen. Jeder Techniker kann und darf sie gegen Lizenzgebühren oder Schulungskosten umsetzen. Sie sind wie „Blaupausen“ – und könnten somit programmierbar sein. In Gestalt virtueller Schaftformen können diese Prinzipien in eine Datenbank übertragen werden, aus der sich der Techniker bedienen kann. Diese virtuellen Schäfte müssen dann mit den jeweiligen patientenspezifischen Daten korrespondieren. Die Produkthaftung oder das Medizinproduktegesetz machen solche Vorhaben jedoch abseits der ®evolutionären Entwicklung für eine Marktanwendung kompliziert.
Ottobock iFab® HGN
Die Vorteile digitaler Modelle und digitaler Schäfte liegen vor allem in einer gravierenden Produktionsverlagerung: Die wohnortnahe Patientenversorgung benötigt die wohnortnahe Fertigung nicht mehr. Das digitale Modell verkörpert letztlich das Know-how und das Geschick des Technikers. Über das Internet kann es überallhin versendet werden. Die Fabrik, welche die Teile fertigt – iFab genannt – muss lediglich in der Lage sein, die Daten umzusetzen und das Produkt gemäß der eingegebenen Form und der angegebenen Bauanweisung zu fertigen. Dies kann über additive Fertigung und damit in 3D-Druck geschehen. Hans Georg Näder will sich mit dem iFab nicht auf eine Fertigungsweise festlegen; vom Tiefziehen bis zum Prepreg soll hier alles gehen – aber eben in Zentralfertigung. In das iFab investiert er im Moment einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag. Standort: Duderstadt. Dabei denkt Näder durchaus global. Kombiniert mit neuen Logistiklösungen wie beispielsweise Drohnen lassen sich in Zukunft auch bislang schwer zugängliche Gebiete im Ausland orthopädietechnisch deutlich besser versorgen, darunter Entwicklungs- oder Krisenländer.
iProcurement und iReimbursement
Jeder kennt inzwischen bei Apps den Hinweis auf „inApp-Käufe“. Es handelt sich um Geschäftsmodelle, die unmittelbar mit dem digitalen Produkt zusammenhängen. Das Freischalten zusätzlicher Features bzw. Eigenschaften erweitert dessen Leistungen. Im Falle der digitalen Geschäftsmodelle sind „Tools“ wie digitale Trainingseinheiten und Gehschulen selbstverständlich. Sie sollen Patienten und Anwender optimal im Gebrauch unterstützen. Sie ermöglichen es zudem, Daten zu erfassen – als digitales Kundenfeedback, als Evidenznachweis und als Grundlage für neue Abrechnungsmodelle mit der verantwortlichen Krankenkasse. Im Zeitalter der digitalen Modelle hat das Fax für den Einzelkostenvoranschlag endgültig ausgedient.
Das Mind-Set der digitalen Generation
Wer ein Unternehmen digitalisieren möchte, der braucht neben technischen Möglichkeiten vor allem einen Wandel in der Unternehmenskultur. Der Schritt vom traditionellen Serienanbieter zum digitalen Unternehmen beinhaltet mehr als das Angebot einer neuen Technologie. Die neuen Methoden lassen sich nicht einfach an das bestehende Fertigungssystem „andocken“. Wichtig ist, die Herstellung neu zu denken, neu zu erfinden. Und den Mut aufzubringen, das Unternehmen infrage zu stellen – und bereit zu sein, das „Alte“ zu zerstören und disruptiv zu agieren.
Für die meisten Menschen bedeutet Veränderung nicht zuletzt Verunsicherung. Für Hans Georg Näder gilt dies nicht. Ihm sind das disruptive Denken und Handeln als Strategien des Unternehmenserfolgs förmlich in die Wiege gelegt worden. Seine Familie musste im Zuge einer drohenden und finalen Enteignung das Unternehmen zweimal komplett neu aufbauen. Mit Erfolg. Auch der Schritt zur Serienfertigung geschah in der schlussendlich bestätigten Überzeugung, dass die Industrialisierung nicht das Ende der Patientenversorgung einläutet, sondern die Menschen dadurch mehr und besser versorgt werden – und sich das Handwerk parallel weiterentwickeln und wachsen konnte.
Es ist die große Stärke Hans Georg Näders, Disruption – also die Zerstörung eines altgedienten Systems – nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Chance. Als die Art und Weise, auf die sich Innovation durchsetzt. Um seine Firma für die Digitalisierung fit zu machen, will Näder sie deshalb komplett neu erfinden. Bereits 2012 präsentierte er die neue Marke „ottobock.“, und der „Punkt“ hinter „ottobock“ sollte den Aufbruch nach „Digitalien“ signalisieren.
Dass er mit seinem Bekenntnis zum disruptiven Charakter der Digitalisierung aneckt, weiß Näder – genauso, dass die meisten Menschen Ängste haben, wenn sich Umbrüche ankündigen. Schon damals, als seine Familie in die Serienfertigung von Passteilen einstieg, hatte sie Schmähbriefe erhalten. Wie einst sein Großvater und Vater, so wird Näder nicht müde zu betonen: „No worries (Keine Bange)! Die Chancen sind für alle viel größer. Es geht nicht um Revolution, sondern um Evolution – die konsequente Weiter- und Fortentwicklung der Orthopädie-Technik.“ Demografischer Wandel, fortschreitendes Wachstum der Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus sowie die Unterversorgung mit Hilfsmitteln weltweit machen effektive und effiziente Versorgung nötig. Deshalb sieht Prof. Näder die großen Chancen in der Konzentration auf die Fertigkeiten der Techniker, die mehr denn je am Patienten gebraucht werden – und durch die Digitalisierung mehr Freiraum für ihre eigentliche Berufung erhalten.
Als Chef von Ottobock will Hans Georg Näder das Unternehmen mit seiner 100-jährigen Tradition in ein neues digitales Zeitalter führen. Er lädt alle ein, daran teilzuhaben.
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